Medikalisierung

Hinter der Tendenz zur Medikalisierung sozialer Probleme vermuten Kritisierende eine unheilige Allianz von ärztlichen Fachkräften sowie der medizinischen Industrie. Insbesondere der pharmazeutischen Industrie wird unterstellt, sie erfinde neue Krankheiten (engl. „disease mongering“), um zusätzliche Absatzmöglichkeiten für ihre Produkte zu schaffen. Die Stichhaltigkeit solcher Vorwürfe lässt sich meist nur schwer überprüfen. Ein gut belegtes Beispiel für eine geschickt eingefädelte Marketingkampagne ist jedoch das so genannte Sissi-Syndrom (alternative Schreibweise: Sisi-Syndrom), angeblich eine besondere Form der Depression, für welche die österreichische Kaiserin Elisabeth Pate gestanden hat. Besonders schwer wiegt der Vorwurf der Medikalisierung, wenn es um Kinder und insbesondere um Eingriffe in ihre Psyche bzw. in die Entwicklung ihres Gehirns geht. Beispiele sind diesbezüglich die vieldiskutierte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und neuerdings die bipolare Störung (früher als „manisch-depressive Erkrankung“ bekannt) im Kindesalter. Wie sinnvoll ein neues Krankheitsbild ist, lässt sich immer nur im Einzelfall beurteilen und ist häufig auch unter Fachgrößen heftig umstritten. In populären Medien werden Umsatzsteigerungen, die Pharmaunternehmen neuen Krankheitsbildern zu verdanken haben, meist umstandslos als Beweis für deren Machenschaften gewertet. Dieses pauschale Urteil erscheint ungerechtfertigt, da ökonomischer Erfolg alternativ auch damit zu erklären sein könnte, dass einem neuen Krankheitsbild ein realer therapeutischer Bedarf zugrunde liegt, der von einem neuen Medikament auch tatsächlich befriedigt wird.

Moynihan, R. / Henry, D. (2006): The Fight against Disease Mongering: Generating Knowledge for Action. In: PLOS 3 (4), 1–4. Online Version (Englisch)

Deutscher Ethikrat (2015): Alte Probleme – Neue Krankheiten. Überflüssige Medikalisierung oder notwendige Therapie? Simultanmitschrift der Vorträge und Diskussion vom 25. Februar 2015. Online Version

Eine entscheidende Rolle bei der Entlarvung des Sissi-Syndroms als einer gezielten Marketingkampagne spielte dieser Artikel in der Zeitschrift „Nervenarzt“:        

Burgmer, M. / Driesch, G. / Heuft, G. (2003): Das „Sisi-Syndrom“ – eine neue Depression? In: Nervenarzt 74(5), 440–444. doi:10.1007/s00115-003-1489-2. Online Version

Die Opioidkrise in den USA
Am 26. Oktober 2017 rief US-Präsident Donald Trump den medizinischen Notstand aus, nachdem sich die Opioidkrise drastisch verschärft hatte. Laut den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) starben 2018 in den USA 67.367 Menschen an einer Rauschgiftüberdosis, wovon ca. 70 % auf Opioide zurückzuführen sind. Opioide sind starke Schmerz- und Betäubungsmittel, unter die alle morphinähnlichen Substanzen fallen, wohingegen Opiate solche Substanzen umfasst, die tatsächlich Opium oder Opiumalkaloide enthalten.

Das CDC teilt den Anstieg an Drogentoten in drei Wellen ein. Die erste Welle begann in den neunziger Jahren und steht im Zusammenhang mit verschreibungspflichtigen Opioiden. Die zweite Welle ab 2010 ging hauptsächlich auf Überdosierungen mit Heroin zurück. Ausschlaggebend für die dritte Welle ab 2013 sind synthetische Opioide (insbesondere Fentanyl) und natürliche bzw. halbsynthetische Opioide (insbesondere Oxycodone und Hydrocodone). 

Das CDC führt den Anstieg an Drogentoten hauptsächlich auf illegal produziertes Fentanyl zurück, das 50–100 Mal stärker wirkt als Morphium. Fentanyl wird gegen sehr starke Schmerzen verschrieben (z. B. für an Krebs erkrankte zu behandelnde Personen in einem fortgeschrittenen Stadium). Zudem trägt zur Opioidkrise bei, dass Pharmaunternehmen (wie z. B. Purdue Pharma, das Oxycodone unter dem Markennamen OxyContin vertreibt) massive Vermarktungsanstrengungen unternommen hatten und ärztliche Fachkräfte in der Folge vermehrt vermehrt Oxycodone verschrieben haben. Seit 2012 sinkt die Verschreibungsrate wieder leicht, dennoch kamen 2017 im Durchschnitt auf 100 Einwohnende Amerikas immer noch 58 Opioid-Verschreibungen; 17 % aller Einwohnenden Amerikas erhielten mindestens eine Opioid-Verschreibung. Das CDC schätzt den Missbrauch verschreibungspflichtiger Opioide für 2018 auf ca. 10 Millionen Personen (12 Jahre oder älter).

Der zunehmende Missbrauch von Opioiden ist jedoch auch weltweit und nicht nur in den USA zu beobachten, wenngleich die Krise in den USA besonders schwer ist. Das United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) schätzt den weltweiten Konsum von Opioiden 2017 auf ca. 53 Millionen, ein Anstieg zur Vorjahresschätzung um 56 %.

CDC-Informationen zur Opioidkrise Online Version (Englisch)

CDC-Jahresbericht 2019 „Annual Surveillance Report of Drug-Related Risks and Outcomes“ Online Version (Englisch)

UNODC-Jahresbericht 2021 „World Drug Report“ Online Version (Englisch)

Umfangreiche Berichterstattung über die Opioidkrise der Washington Post „The Opioid Files“ Online Version (Englisch)

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