Off-label-Verschreibung von Antidepressiva bei Minderjährigen

Bereits die übergreifende Frage, ob Antidepressiva auch an Minderjährige verschrieben werden sollten, ist in der Psychiatrie Gegenstand von Kontroversen. Wenn möglich werden in der Regel therapeutische gegenüber (ausschließlich) pharmakologischen Behandlungsmethoden bevorzugt. 

In den Fällen, in denen Minderjährigen Antidepressiva verabreicht werden, erfolgt dies oftmals außerhalb der Zulassung. So werden in Deutschland und in den USA zwischen 36-55 % der entsprechenden Medikamente an Minderjährige „off-label” verschrieben. Für die Behandlung von Minderjährigen zugelassen sind hingegen insgesamt nur wenige Medikamente. Beispielsweise sind in den Vereinigten Staaten lediglich zwei Medikamente für die Behandlung schwerer Depressionen bei Minderjährigen zugelassen. In Deutschland ist nur der selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und Wirkstoff „Fluoxetin” seit 2006 für Kinder ab acht Jahren zugelassen. Die Praxis der Verschreibung „off-label” von Antidepressiva, die bisher nur für die Behandlung von Erwachsenen zugelassen sind, hat zur Folge, dass für ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit bei Minderjährigen oftmals keine ausreichende Evidenz vorliegt.

Borchard-Tuch, C. (2008): Depression. Wenn Kindern nichts mehr Freude macht. In: Pharmazeutische Zeitung 153(16).

Kölch, M. /Fegert, J. M. (2007): Medikamentöse Therapie der Depression bei Kindern und Jugendlichen. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 56(3), 224–233 Online Version

Mayo Foundation for Medical Education and Research (27. Mai 2016): Antidepressants for children and teens. Online Version (Englisch)

 Die Problematik der Off-label-Verschreibung im Hinblick auf die Verträglichkeit wird an der Gefahr von zuvor nicht bekannten schweren Nebenwirkungen bei Minderjährigen besonders deutlich. Im Jahr 2007 erließ die US-amerikanische Food and Drug Administration die Pflicht, die Beipackzettel von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI), einer Gruppe von Antidepressiva, mit einem sogenannten „black label” zu versehen, in dem auf die Gefahr einer Erhöhung der Suizidalität bei der Einnahme dieser Medikamente durch Minderjährige hingewiesen wird. Sie reagierte damit auf eine 2007 durchgeführte Meta-Studie von Cipriani et al. zur Anwendung von Antidepressiva bei Minderjährigen im Zeitraum von 1988 bis 2006. Darin stellte sich u. a. heraus, dass einige Minderjährige infolge der Einnahme von Antidepressiva suizidale Gedanken entwickelten oder aber bereits vorhandene Intentionen bei ihnen dadurch verstärkt wurden. einzugeben.

Hintergrundinformationen zur Entscheidung des US-amerikanische Food and Drug Administration: Online Version (Englisch)

Cipriani, A. / Zhou, X. / Del Giovane, C. / Hetrick, S. E. / Qin, B. / Whittington, C. / Coghill, D. / Zhang, Y. / Hazell, P. / Leucht, S. / Cuijpers, P. / Pu, J. / Yang, D. / Lui, L. / Xie, P. (2016): Comparative efficacy and tolerability of antidepressants for major depressive disorder in children and adolescents: a network meta-analysis. In: The Lancet 388(10047), 881–890. doi: 10.1016/S0140-6736(16)30385-3 Online Version (Englisch)

Holtmann, M. / Bölte, S. / Poustka, F. (2006): Suizidalität bei depressiven Kindern und Jugendlichen unter Behandlung mit selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern. In: Der Nervenarzt 77(11), 1332–1337. Online Version 

Nachfolgende Studien relativieren das Risiko der Suizidalität, offenbaren jedoch den Mangel an Evidenz für die Wirksamkeit von zahlreichen Antidepressiva bei Minderjährigen. So konnte nur die Wirksamkeit des bereits genannten Fluoxetin bei der Behandlung von Depressionen bei Minderjährigen belegt werden. Zugleich entstand für Minderjährige, die entsprechende Medikamente einnahmen, keine erhöhte Gefahr suizidale Intentionen oder Gedanken zu entwickeln. Es besteht also nur eine „einzige evidenzbasierte pharmakotherapeutische Option bei depressiven Minderjährigen, die unter Beachtung der Sicherheitsmaßnahmen eingebettet werden sollte in eine umfassende kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung” (Kölch/Fegert 2007, 224).

Die Publikationen z. B. von Cipriani et al., Jureidini et al. sowie Bridge et al. verdeutlichen ergänzend, dass in einer Reihe von Studien, in denen die Verträglichkeit von Antidepressiva für Minderjährige überprüft werden sollte, die Qualität der Forschung unzureichend war. Beispielsweise wurden z. T. Negativ-Ergebnisse nicht veröffentlicht und die Indikatoren für eine erhöhte Suizidalität nicht ausreichend spezifiziert.

Bridge, J. A. / Iyengar, S. / Salary, C. B. /Barbe, R. / Birmaher, B. / Pincus, H. A. / Ren, L. / Brent, D. A. (2007): Clinical response and risk for reported suicidal ideation and suicide attempts in pediatric antidepressant treatment: a meta-analysis of randomized controlled trials. In: Journal of the American Medical Association 297(15), 1683–1696. Online Version (Englisch)

Jureidini, J. N. / Doecke, C. J. / Mansfield, P. R. / Haby, M. M. / Menkes, D. B. / Tonkin, A. L. (2004): Efficacy and safety of antidepressants for children and adolescents. In: British Medical Journal 328, 879–883 Online Version (English)

Fegert, J. M. (2007): Development Psychopharmacology. In: Merkel, R. / Boer, G. / Fegert, J. M. / Galert, T. / Hartmann, D. / Nuttin, B. / Rosahl, S. K.: Intervening in the Brain. Changing Psyche and Society, Berlin u.a.: Springer (Ethics of Science and Technology Assessment 29), 24–30.

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