Tierisches Bewusstsein

In der Neuzeit vertraten der französische Philosoph René Descartes und sein Schüler Nicolas Malebranche die These, Tiere empfänden weder Freude noch Schmerz. Descartes war der Auffassung, alles Verhalten der Tiere sei - wie die Vollzüge eines Automaten - auf Reflexe zurückzuführen. Tiere verfügten nicht wie der Mensch über eine geistige Substanz (res cogitans), die es ihnen erlaube zu fühlen und zu denken, sondern seien lediglich materielle Körper (res extensa), die mechanisch auf Reize reagierten.

Drastisch war vor allem die Konsequenz, dass auch tierische Schmerzensschreie nicht Ausdruck erlebten Leidens seien, sondern lediglich unbewusste Reflexe ("wie das Quietschen einer Tür"). In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Auffassung, über tierisches Erleben ließe sich nichts Wissenschaftliches sagen, wegen des aufkommenden "Behaviourismus" wieder aktuell.

Zugleich gab es von jeher - gerade in der Alltagspsychologie - Tendenzen, tierisches Verhalten in Analogie zu menschlichem Verhalten zu verstehen und auf komplexe geistige Zustände (zum Beispiel Wünsche und Überzeugungen) zurückzuführen; eine solche Deutung wird gemeinhin als "anthropomorph" bezeichnet.

Auf der Suche nach einem Mittelweg zwischen Descartes' Leugnung eines tierischen Geistes und dem alltagspsychologischen Anthropomorphismus, beschäftigt sich die kognitive Ethologie mit der Erforschung tierischen Denkens und Erlebens. Eine solche Forschung ist auch für die Frage nach der ethischen Bewertung von Tierversuchen von Bedeutung:

(1) Ein ethisches Problem der Tierversuche gäbe es (gemäß der allgemeinen Überzeugung) überhaupt nur, wenn Tiere empfindungsfähig wären. Aber selbst wenn ein tierisches Schmerzempfinden prinzipiell angenommen wird, stellt sich darüber hinaus die Frage, ob der Leidensdruck der Versuchstiere aufgrund von fehlendem Selbst- und Zukunftsbewusstsein eher größer oder eher geringer einzuschätzen ist als der Leidensdruck von Menschen in einer vergleichbaren Situation.

(2) Die Minimierung tierischen Leidens - wie sie gesetzlich gefordert wird - ist auf eine verlässliche Einschätzung tierischen Empfindens angewiesen. Derzeit herrscht jedoch keine Einigkeit über verlässliche Kriterien der Schmerzzuschreibung. In Richtlinien, Gesetzestexten etc. wird daher häufig verlangt, tierisches Schmerzempfinden analog zu menschlichem Schmerzempfinden anzunehmen, obwohl es keinen Beweis dafür gibt, dass alle Lebewesen auf die gleichen Reize mit Schmerzen reagieren.

Eine Zusammenstellung philosophischer Texte enthält der Band:

Perler, Dominik, Wild, Markus (Hg.) (2005): Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Über die Erforschung des Schmerzbewusstseins von Tieren informiert:

Galert, Thorsten (2005): Vom Schmerz der Tiere. Grundlagenprobleme der Erforschung tierischen Bewusstseins. Paderborn: Mentis.

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