Technikfolgenabschätzung

Technikfolgenabschätzung (kurz TA, auch als Technologiefolgenabschätzung oder Technikbewertung bezeichnet) ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, welches sich der Beobachtung, Erforschung, Analyse und Bewertung von Potenzialen und Auswirkungen technischer und wissenschaftlicher Entwicklungen annimmt. Eine große Rolle spielt hier die Abschätzung und Abwägung von Chancen und Risiken, die technische Entwicklungen für ökologische, soziale und ökonomische Bereiche in sich tragen können sowie eine damit verbundene Erstellung und Herausgabe von Handlungsempfehlungen und Richtlinien.

1. Hintergrund

Die Technikfolgenabschätzung entstand in den 1960er und 1970er Jahren in den USA und in Europa als Antwort auf einen Bedarf, welcher aus der Gesellschaft wie Politik heraus artikuliert wurde. Bis dahin herrschte überwiegend ein Fortschrittsoptimismus bis hin zur Idee des grenzenlos möglichen Fortschritts, der mit der Europäischen Aufklärung einsetzte und durch die industrielle Revolution verstärkt wurde. Mit dem Auftreten einer Vielzahl an sich verschärfenden Umwelt- und globalgesellschaftlichen wie ökonomischen Krisen, die zum Teil auch mit technischen Entwicklungen in Zusammenhang gebracht wurden, machte diese Vorstellung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch eine Kehrtwende. Die Ambivalenz von Technik und technischem Fortschritt trat verstärkt in den Fokus, womit sich ein neues Verständnis dessen verbreitete: Innovation einerseits als unausweichliches und notwendiges Mittel der Problemlösung, andererseits als problemverursachend, da die die negativen Folgen der Technik und Technisierung zunehmend sichtbarer wurden (siehe Abschnitt zu Collingridge-Dilemma). Diese sodann erkannte Ambivalenz führte zu Unsicherheiten und Orientierungsproblemen bei der Bewertung von Technik. Die Technikfolgenabschätzung sollte dazu beitragen, zugleich die Chancen des technischen Fortschritts zu nutzen und die Risiken zu vermeiden, zu reduzieren oder zumindest einen verantwortungsvollen und bewussten Umgang mit diesen zu ermöglichen. Sie sollte sich vorrausschauend mit den möglichen Folgen befassen und entsprechend zu gut informierten, reflektierten Entscheidungen verhelfen.

2. Charakteristika und Einsatzgebiet

Die Technikfolgenabschätzung stellt historisch und bis dato keine eigene wissenschaftliche Disziplin dar, wird aber als interdisziplinäre und problemorientierte sozio-epistemische Praxis auf einem heterogenen Forschungsgebiet verstanden. Sie findet heute vor allem in den folgenden drei Gebieten Anwendung, in denen die Anforderungen an sie wie auch ihre Methodik kontextabhängig variieren:

Politikberatung, Beratung von Parlamenten, Ministerien und internationalen Organisationen
Öffentlicher Technikdialog und zivilgesellschaftliche Inklusion
Beteiligung an der direkten Technikgestaltung, mitwirkend und beratend im technischen Entwicklungsvorhaben
Dabei beschäftigt sich die Technikfolgenabschätzung nicht mit Technik und Folgen als solchen, sondern wird erst dann mit einbezogen, wenn diese möglicherweise Bedeutungen von gesellschaftlicher Tragweite haben, seien es positive oder negative. Diese Bedeutungen, beispielsweise für die Bereiche Innovationen, Klimaschutz, Gesundheit oder den Arbeitsmarkt, werden zumeist in Kontexten von Kontroversen und Interessenskonflikten deutlich. Die Bedeutungszuschreibungen erfolgen gleichermaßen durch Agierende aus Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, wie auch durch Betroffene, die Befürchtungen oder Vermutungen hinsichtlich Folgen von bestimmter Technik für Mensch und Gesellschaft artikulieren. Von der Technikfolgenabschätzung wird erwartet wie auch gefordert, dass sie Technikfolgen, Chancen wie Risiken, und Technikkonflikte früh erkennt, Technikkonflikte bewältigt, Technikgestaltung im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung begünstigt und die Demokratisierung von Technik anstrebt. Dabei ist die Technikfolgenabschätzung immanent prospektiv und zukunftsbezogen und zielt auf die Mitgestaltung der technischen Zukunft in eine wünschenswerte Richtung. Vor allem in Bezug auf die Früherkennung von Technikfolgen ist auf das Vorsorgeprinzip (siehe Modul Vorsorgeprinzip und Innovationsprinzip) zu verweisen, welches einen Raum für politisches Handeln schaffen soll, schon bevor eine eindeutige wissenschaftliche Evidenz über das Risiko besteht. 

2.1 Intendierte und nicht-intendierte Folgen

Unter Folgen sind in diesem Kontext nicht Folgen von Technik zu verstehen, denn streng genommen hat Technik keine Folgen. Gemeint sind die Folgen, die sich aus dem Möglichkeitsspielraum von menschlichen Entscheidungen und Handlungen im Zusammenhang mit Technik ergeben können.
 Dabei kann zwischen intendierten und nicht-intendierten Folgen unterschieden werden – die Technikfolgenabschätzung legt ihren Fokus vor allem auf letztere. Nicht-intendierte Folgen beinhalten nicht beabsichtigte, häufig nicht-vorhersehbare Folgen, die auch mit starker Zeitverzögerung auftreten können und meist unerwünscht sind. Historisch wurden diese nicht-intendierten Folgen zunehmend relevanter, da mit dem technischen Fortschritt und der stetigen Globalisierung der Welt auch die räumliche und zeitliche Reichweitendimension der Folgen deutlich zugenommen hat. Diese Folgen betreffen vor allem die Bereiche der nichtmenschlichen Natur sowie der (menschlichen) Gesundheit, in denen sie sich bereits teilweise gravierend bemerkbar gemacht haben, und können sich als soziale und kulturelle Folgen, als Abhängigkeit von Technik sowie als anthropologische Folgen äußern.

Weiterhin kann Technik in der Folge ihrer Verwendung Optionen menschlicher Handlungsspielräume eröffnen sowie verschließen. Während in einem Denken gemäß dem Fortschrittsoptimismus meist nur die Eröffnung von Handlungsfeldern in den Blick genommen wird, erhält die mit den Folgen möglicherweise einhergehende Verschließung tendenziell weniger Beachtung. Diese Verschließung kann durch eine Macht- und Werteverschiebung, durch Gewöhnung an und Abhängigkeit von Innovationen wie durch Zerstörung und damit Verschließung ganzer Optionen für Menschen und Regionen erfolgen (siehe Modul Vorsorgeprinzip und Innovationsprinzip). Besonders letzteres ist eng verschränkt mit Technikkonflikten, die sich aus Konstellationen ergeben, in denen besonders starke Diskrepanzen zwischen den Personen vorherrschen, denen die jeweiligen technischen Innovationen einen sehr großen Nutzen bringen und den Personen, denen die technischen Innovationen überwiegend schaden.

2.2 Politikberatung

Eine wesentliche Rolle spielt die Technikfolgenabschätzung auch als Instrument der Politikberatung. Das Einsatzfeld erstreckt sich dabei über Parlamente, Ministerien und Behörden, das Gesundheitssystem bis zu internationalen Gremien. In der Bundesrepublik Deutschland von hoher Bedeutung ist das im Jahr 1990 eingerichtete Büro für Technikfolgen-Abschätzung im Deutschen Bundestag (TAB). Dieses sollte zur Verbesserung der Informationsgrundlagen beitragen, vor allem bei forschungs- und technologiebezogenen parlamentarischen Beratungsprozessen. Bei der Beratung von Ministerien und Behörden erhält die Technikfolgenabschätzung vor allem in Form einer Begleitforschung zu laufenden wissenschaftlich-technischen Forschungsprogrammen Einzug. Einen weiteren wichtigen Zweig für die deutsche Technikfolgenabschätzung spielt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), welches seit den 1980er Jahren die Technikfolgenabschätzung in seiner Forschungs- und Förderpolitik berücksichtigt und involviert.

2.3 Partizipative Erweiterung

Motiviert durch demokratietheoretische Erwartungen und Ansprüche wurde das Gebiet der Technikfolgenabschätzung in den 1980ern um die partizipative Technikfolgenabschätzung (öffentlicher Technikdialog) erweitert, da gefordert wurde, dass die Bewertung der Folgen, wie bspw. die Akzeptabilität von Risiken, nicht allein wissenschaftlichen Fachpersonen oder politischen Entscheidungstragenden überlassen werden sollte. Stattdessen sollten gesellschaftliche Gruppen, die betroffene Bevölkerung und die allgemeine Öffentlichkeit in den Diskurs miteinbezogen werden, um sich damit auch dem Ideal einer Demokratisierung von Technik anzunähern. In dem Kontext etablierten sich vielzählige Verfahren, bspw. Konsensuskonferenzen, Bürger:innenforen oder Planungszellen. Allerdings standen und stehen diese Verfahren auch partiell in der Kritik, vor allem vor dem Hintergrund ungleich verteilter Machtverhältnisse zwischen den Interessengruppen, welche die demokratietheoretische Hoffnungen von Bürger:innen-Beteiligungen auf Augenhöhe zum Teil als nicht einlösbar oder naiv erwies.

3. Technikfolgenabschätzung heute

Gegenwärtig herrscht in demokratischen oder demokratienahen Verfassungen unterliegenden Ländern eine Selbstverständlichkeit, dass die Öffentlichkeit bzw. relevante gesellschaftliche Gruppen in die Beratungen über zukünftige Technik mit einbezogen werden, etwa in Form von Industrieverbänden, Naturschutzgruppen, Bürger*inneninitiativen oder nichtorganisierten Zivilpersonen. Darüber hinaus findet der Diskurs öffentlich statt, was auch die inter- und transdiszipline Forschung verstärken soll, siehe beispielsweise das open access journal Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis (TATuP, www.tatup.de/). Ebenso hat sich der Gegenstandsbereich mit der Zeit verschoben bzw. erweitert: So liegt das Augenmerk heute weniger auf großtechnischen Anlagen, sondern mehr auf Techniken, die in zahlreichen Nutzungskontexten auf unterschiedlichste Weisen eingesetzt werden können, auf der Zusammenführung unterschiedlicher Techniken (Nano-, Bio-, und Informationstechnik sowie Neurowissenschaften) sowie zunehmend auf großen gesellschaftlichen Transformationen mit starkem Technikbezug.

Zudem hat sich eine globale und interdisziplinäre Community zur Technikfolgenabschätzung gebildet, wie beispielsweise das Global Technology Assessment Network (globalTA), welches über Mitgliedsinstitutionen aus 27 Ländern weltweit verfügt (www.openta.net/netzwerk-ta). Die Erschließung der globalen Ebene ist angesichts des ebenso globalen Ausmaßes der Folgen notwendig, darüber hinaus besteht die Hoffnung, dass Technikfolgenabschätzung demokratie- und gerechtigkeitsfördernd wirken kann. Aspekte der Technikfolgenabschätzung gewinnen auch in angrenzenden Fachgebieten an Bedeutung, wie beispielsweise der Science and Technology Studies (STS), der Angewandten Ethik und der Nachhaltigkeitsforschung.

3.1 Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit stellt eine normative Verpflichtung der Technikfolgenabschätzung dar. Denn auch das Verhältnis von Technik und nachhaltiger Entwicklung ist ambivalent. Die Technikfolgenabschätzung soll in diesem Kontext möglichst vor, mindestens während der Entwicklung einer neuen Technologie mögliche nachhaltigkeitsrelevante Folgen erfassen und bewerten, um gegebenenfalls dem Innovationsprozess eine Umlenkung auf nachhaltigere Produkte oder Systeme zu ermöglichen. In globaler Perspektive sollen Zukunftsverantwortung sowie die gerechte Verteilung der Möglichkeiten gegenwärtiger Bedürfnisbefriedigung im Kontext zueinander beachtet werden. Zudem haben sich im Kontext des Umgangs mit der natürlichen Umwelt drei sogenannte ökologische Managementregeln etabliert:

  1. Erneuerbare natürliche Ressourcen betreffend darf die Nutzungsrate die Regenerationsrate nicht überschreiten und die Funktionsfähigkeit der betroffenen Ökosysteme nicht gefährden.
  2. Die Freisetzung von Emissionen darf die Aufnahmefähigkeit der Umwelt und Ökosysteme nicht überschreiten.
  3. Nicht erneuerbaren Ressourcen sollen besonders in den Fokus genommen werden.

Als eine von vielen weiteren wichtigen Institution, in dieser Hinsicht stellt beispielsweise das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), der sogenannte „Weltklimarat“ dar, der 195 Staaten als Mitglieder vereint und die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Strategien zum Klimawandel zusammenträgt und in Form von Sachstandsberichten publiziert.

Für weitere Informationen zum Thema Technikfolgenabschätzung siehe etwa:

Grundwald, A. (2022): Technikfolgenabschätzung. Nomos: Baden-Baden. Online Version

Linger, S. (2020): Editorial; Grunwald, A. / Saretzki, T. (2020): Demokratie und Technikfolgenabschätzung. Praktische Herausforderungen und konzeptionelle Konsequenzen. In: TATuP: Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis: Demokratie und Technikfolgenabschätzung. 29/3. Online Version

Dusseldorp, M. (2021): Technikfolgenabschätzung. In: Grundwald, A. / Hillerbrand, R. (Hg.): Handbuch Technikethik. Stuttgart: J.B. Metzler, 442–446. Online Version

Böschen, S. / Dewald, U. (2018): Theorie der Technikfolgenabschätzung reloaded. Ten years after. In: TATuP Bd. 27 Nr. 1 (2018), 11–13. Online Version

Ropohl, G. (1996): Ethik und Technikbewertung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Woopen, C. / Mertz, M. (2014): Ethik in der Technikfolgenabschätzung. Vier unverzichtbare Funktionen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 6–7, 40–46. Online Version

Kornwachs, K. (1994): Philosophie und ethische Praxis der Technikfolgenabschätzung. In: Bullinger, H. J. (Hg.): Technikfolgenabschätzung. Reihe Technologiemanagement - Wettbewerbsfähige Technologieentwicklung und Arbeitsgestaltung. Stuttgart: B.G. Teubner, 137–159.

Wiegerlinhg, K. (2022): Ethische Kriterien der Technikfolgenabschätzung. In: Joisten, K. (Hg.): Ethik in den Wissenschaften. Einblicke und Ausblicke. Reihe Ethik – Mensch – Technik. Berlin/Heidelberg: J.B. Metzler, 95–123.

Abels, G. / Bora, A. (2013): Partizipative Technikfolgenabschätzung und ‑bewertung. In: Simonis, G. (Hg.): Konzepte und Verfahren der Technikfolgenabschätzung. Wiesbaden: Springer, 109–128. DOI: 10.1007/978‑3‑658‑02035‑4_7 Online Version

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