Vorsorgeprinzip und Innovationsprinzip

Die Abschätzung und Bewertung von Folgen und Risiken von Handlungen und Technikanwendungen basiert auf dem aktuellen Wissensstand der entscheidenden Akteur*innen und Institutionen/ einer Gesellschaft. Häufig sind die zur Verfügung stehenden Informationen jedoch unvollständig oder mehrdeutig. Zu den Gründen hierfür zählen u. a. die Komplexität der Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen und die schwer kalkulierbaren Langzeitfolgen von neuen und noch kaum erforschten Technikanwendungen. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass die Abschätzung und Bewertung von Schadensrisiken für Mensch und Natur mit signifikanten Unsicherheiten behaftet sind. Das Vorsorgeprinzip soll daher als Handlungsmaxime dienen, um angesichts dieser Unsicherheiten und der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen adäquate Entscheidungen treffen zu können.

Das Vorsorgeprinzip (Precautionary Principle) ist ein philosophisches bzw. ethisches Prinzip, sofern normative Erwägungen eine bedeutende Rolle spielen, d. h. insofern die Frage gestellt wird, wie mit Risiken und Unsicherheiten umgegangen werden soll. Das Vorsorgeprinzip lässt sich zudem als umweltpolitischer und ökonomischer Grundsatz begreifen, der zuweilen auch in der Sicherheitspolitik Anwendung findet. Durch seine Verankerung auf deutschen, europäischen und internationalen Rechtsebenen ist es zudem als juristisches Prinzip zu identifizieren: Es wurde von der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem Verursacher-, dem Kooperations- und dem Gemeinlastprinzip bereits 1986 in den „Leitlinien Umweltvorsorge“ formuliert. Als ein Leitprinzip des Umweltschutzes ist es u. a. im Artikel 34 Absatz 1 des Einigungsvertrages von 1990, im Artikel 20a im deutschen Grundgesetz sowie im Artikel 191 im Europarecht verankert und findet Erwähnung in der Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung von 1992 sowie im Jahr 2000 in einer Mitteilung der EU-Kommission für Europäische Gemeinschaft. 

Das Vorsorgeprinzip setzt sich aus dem Prinzip der Ressourcenvorsorge und dem der Risikovorsorge zusammen. Bei der Ressourcenvorsorge handelt es sich um die Forderung des langfristigen Erhalts von und des nachhaltigen Umgangs mit Umweltressourcen, bei der Risikovorsorge um die Forderung der Bewältigung und Prävention von Risikosituationen, die sich durch Unwissen, fehlende Evidenz und wissenschaftliche Unsicherheit bezüglich möglicher Folgen eines Produkts, Phänomens oder Verfahrens auszeichnen. Diese Folgen stehen in Zusammenhang mit (noch) nicht absehbaren globalen und möglicherweise irreversiblen Umweltveränderungen und -schädigungen. Das Vorsorgeprinzip soll Belastungen der Umwelt im Vorhinein vermeiden und steht somit konträr zu einer erst nachträglichen Schadensbegrenzung.

Befürwortende sowie Kritisierende stehen hierzu kontrovers in einer Debatte, die soziale, ökologische, ökonomische sowie politische Aspekte umfasst.

Befürwortende des Vorsorgeprinzips weisen auf die möglichen Folgen und Risiken hin, die nicht abschließend geklärt werden können. Anstatt auf das Eintreten eines Problems oder den Beweis für ein Risiko zu warten, sollten bei begründeter Besorgnis Innovationen zurückgestellt werden. Die sogenannte trial-and-error-Strategie sei nicht mehr zeitgemäß, gerade wenn die Entwicklung des Vorsorgeprinzips als Reaktion auf die Schäden und Katastrophen verstanden wird. Befürwortende eines besonders engen Vorsorgeprinzips fordern zudem, dass Vorsorgemaßnahmen bereits dann eingesetzt werden, wenn nicht nur ein besorgniserregendes Gefährdungspotenzial oder ein weitreichendes Expositionspotenzial vorliegen, sondern auch ein einfaches Nichtwissen darum.

Kritische Stimmen hingegen befürchten, dass durch ein striktes Vorsorgeprinzip Innovation und Wettbewerbsfähigkeit blockiert werden. Es sei entwicklungshemmend, da es die Gefahr von Nichthandeln außer Acht ließe. Stattdessen wird eine Verhältnismäßigkeit zwischen einem behutsamen, aber aktiven Umgang mit neuen Technologien auf der einen und Vorsorgemaßnahmen auf der anderen Seite gefordert. Der technische Fortschritt biete nicht nur wirtschaftliches Wachstum, sondern auch die Chance, zentralen gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen wie der Klimakrise, Ressourcenknappheit und der Problematik des Welthungers entgegenzuwirken. Kritisierende fordern deshalb ein das Vorsorgeprinzip ergänzendes Innovationsprinzip (Responsible Research Innovation). Das Innovationsprinzip besagt, dass bei der Erstellung von Gesetzen oder Vorschriften zu prüfen ist, ob sich diese negativ auf die Innovationsfähigkeit auswirken. So soll bei der Folgenabschätzung von Technikanwendungen der Fokus nicht lediglich auf die Risiken einer Anwendung gelegt, sondern ebenso geprüft und abgewogen werden, welche möglichen Chancen diese Anwendung bereithält, die bei Nichtanwendung verloren gehen könnten.

 Für generelle Informationen zum Vorsorgeprinzip und Innovationsprinzip siehe etwa:

Jonas, H. (1979): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M.: Insel-Verlag.

Birnbacher, D., / Schicha, C. (2001): Vorsorge statt Nachhaltigkeit – ethische Grundlagen der Zukunftsverantwortung. In: Birnbacher, D. / Brudermüller G. (Hg.), Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität. Würzburg: Königshausen und Neumann, 17–33.

Sunstein, C. R. (2005). The Precautionary Principle as a Basis for Decision Making. The Economists’ Voice, 2(2), 1–9. Online Version (Englisch)

Sunstein, C. R. (2003): Beyond the Precautionary Principle. In: University of Pennsylvania Law Review. Vol. 151, No. 3, 1003–1058. Online Version (Englisch)

Von Gleich, A. (2013): Prospektive Technikbewertung und Technikgestaltung zur Umsetzung des Vorsorgeprinzips. In: Simons, G. (Hg.): Konzepte und Verfahren der Technikfolgenabschätzung, 51–74. Online Version

Bourguignon, D. (2016): Das Vorsorgeprinzip. Begriffsbestimmungen, Anwendungsbereiche und Steuerung. Analyse für das Europäische Parlament. Hg. v. d. Europäischen Union. Online Version

Von Gleich, A. / Petschow, U. (2017): Aktuelle Diskussion um die Einführung eines Innovationsprinzips und das Verhältnis zum Vorsorgeprinzip. Kurzstudie. Im Auftrag des NABU – Naturschutzbund Deutschland e. V. Hg. v. Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW). Online Version

Friedrich, B. / Hackfort, S. K. (2018): Konfliktfeld „neue Gentechnik“: Regulierung landwirtschaftlicher Biotechnologien zwischen Innovation und Vorsorge. In: GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society 27 (2). Online Version

Umweltbundesamt (2021): Vorsorgeprinzip. Online Version 

Von Schomberg, R. (2013): A vision of responsible innovation. In: Owen, R. / Heintz, M. / Bessant, J. (eds.): Responsible Innovation. London: John Wiley, forthcoming. Online Version (Englisch)

European Commission, Directorate-General for Research and Innovation (2013): Options for Strengthening Responsible Research and Innovation. Report of the Expert Group on the State of Art in Europe on Responsible Research and Innovation. Online Version (Englisch)

Zu einer konkreten Verknüpfung zwischen Bioökonomie und Innovationsökonomie vgl. etwa:

Pyka, A. (2017): Die Bioökonomie unter dem Blickwinkel der Innovationsökonomie. In: Pietzsch, J. (Hg.): Bioökonomie für Einsteiger. Berlin/Heidelberg: Springer Spektrum, 129–138. 

Pinsdorf, C. (2022). Bioeconomy Beneath and Beyond: Persisting Challenges from a Philosophical and Ethical Perspective. In: Lanzerath, D. / Schurr, U. / Pinsdorf, C. / Stake, M. (eds.) Bioeconomy and Sustainability. Springer, Cham. 343–377, insbes. Kapitel 3. Online Version (Englisch)

Zu Informationen bezüglich rechtlicher Verankerungen siehe etwa: 

Einigungsvertrag Artikel 34 Absatz 1 (1990). Online Version

Rio-Deklaration über Umwelt und Entwicklung (1992). Online Verision

Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (1992): Agenda 21. Online Version

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Artikel 191. Online Version

Grundgesetz Artikel 20a. Online Version

Kommission der Europäischen Gemeinschaft (2000): Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips. KOM(2000) 1 endg. vom 2. Februar 2000. Online Version

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