Krankheitsmodelle

Stammzellen ermöglichen das Studium molekularer Mechanismen einer Erkrankung unter Laborbedingungen. Stammzellbasierte Modelle werden daher zur Erforschung von Krankheiten eingesetzt. Mit Hilfe von Krankheitsmodellen sollen Krankheitsverläufe und die Funktionsweise von Wirkstoffen im menschlichen Körper untersucht werden. Auch die Entstehung und der Verlauf spezieller Krankheiten sowie die zugrundeliegenden molekularen Prozesse können möglicherweise mit Krankheitsmodellen abgebildet werden. 

Die Verwendung von iPS-Zellen birgt enorme Vorteile im Hinblick auf die Erstellung von Krankheitsmodellen. So kann durch den einfachen Herstellungsprozess von iPS-Zellen dem hohen Bedarf an pluripotenten Zellen für solche Modelle einfacher und spezifischer nachgekommen werden, als es mit humanen embryonalen Stammzellen möglich ist. Zudem können mit iPS-Zellen patient*innenspezifische Modelle zur Simulation von Krankheitsverläufen erzeugt werden. Die individuelle Wirkung bestimmter Therapien auf die Patient*innen kann mit Hilfe von Gewebemodellen nachvollzogen werden, wenn diese aus iPS-Zellen hervorgegangen sind, welche wiederum aus nicht-pluripotenten somatischen Zellen der Person erzeugt wurden. Solche Verfahren werden beispielsweise im der Bekämpfung von Krebs angewandt.

Am Beispiel der Alzheimer-Erkrankung wird der Vorteil eines auf humanen embryonalen Stammzellen basierten Modells deutlich. So konnten in einer 2014 im Fachmagazin Nature publizierten Studie anhand von in der Petrischale gezüchteten Nervenzellen an Tiermodellen aufgestellte Hypothesen zur Entstehung der Krankheit überprüft werden. Forschende der Harvard Medical School in Boston haben anhand eines Labormodells ein Nervengeflecht wachsen lassen, das Kennzeichen der familiären Alzheimerdemenz aufweist. An weiterentwickelten Modellen können nicht nur die Mechanismen der Erkrankung studiert, sondern auch Medikamente getestet werden. 

Etwas komplexer ist die Bezugnahme auf Stammzellen bei der Erforschung von Krebs, weil bislang umstritten ist, welche Rolle Stammzellen bei der Entstehung von Krebs spielen. Bisher werden in der Forschung zwei Modelle für die Entstehung von Tumoren diskutiert: das stochastische Modell sowie das Modell von Krebs- bzw. Tumorstammzellen. Nach dem stochastischen Modell besitzt jede Krebszelle die Fähigkeit, sich entweder zu teilen oder zu differenzieren. Ob eine Krebszelle sich selbst erneuert oder sich ausdifferenziert obliegt dabei dem Zufall. Nach einem deutlich neueren Modell spielen Krebsstammzellen eine entscheidende Rolle bei der Krebsentstehung. Die Tumorstammzellen besitzen Eigenschaften, die denen von Stammzellen sehr ähnlich sind, so z.B. Selbsterneuerung und hohes Differenzierungspotential. Stammzellen bilden in einem Tumor demnach die Grundlage eines organisierten Systems, das neue Zellen produziert und die Entstehung von Tumorgewebe bedingt. Aufgrund dieser Eigenschaften sind Krebsstammzellen maßgeblich für die Entstehung von Tumoren verantwortlich, auch wenn die entstandenen Tumore später größtenteils aus ausdifferenzierten Krebszellen bestehen, die kein weiteres Differenzierungspotential mehr besitzen. Mit Hilfe dieses Modells können Probleme traditioneller Krebstherapie besser erklärt werden. Die Neigung von Tumoren, nach scheinbar erfolgreicher Chemotherapie in aggressiverer Form zurückzukehren und Metastasen zu bilden, könnte beispielsweise darauf zurückgeführt werden, dass die für die Krebsentstehung entscheidenden Tumorstammzellen nicht adäquat bekämpft wurden. Beide Modelle der Krebsentstehung schließen sich allerdings nicht gegenseitig aus. So können Tumorstammzellen durchaus Gegenstand der im stochastischen Modell beschriebenen Prozesse werden. Es liegt nahe, dass Krebsstammzellen u.a. durch die mutationsbedingte Transformation normaler Stammzellen entstehen und körpereigene Stammzellen so eine entscheidende Bedeutung in der Formation einer Krebserkrankung haben.

Wie Gewebestammzellen entarten und welche Signalwege, Hormone und Transmitter zur Entstehung von Krebs beitragen, soll wichtige Hinweise für die Behandlung dieser Krankheiten liefern. Spezifische Signalwege, die wesentliche Schritte der embryonalen Entwicklung kontrollieren, können auch während der Entstehung eines Tumors reaktiviert werden. Tumorzellen verfügen über Fähigkeiten zur Vermehrung, die bei Stammzellen der normalen Körpergewebe für Instandhaltung, Reparatur und regenerative Prozesse notwendig sind. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die molekularen und zellulären Mechanismen der Selbsterneuerung (Self-Renewal), die Bedeutung der Zellnische und der Einfluss von Onkogenen und Tumorsuppressorgenen auf Stammzellen. Normale Stammzellen haben, ebenso wie Krebszellen, die Fähigkeit lebenslanger Selbsterneuerung. Die Selbsterneuerung von Stammzellen ist ein physiologischer Mechanismus, der einen kleinen Bestand von Stammzellen aufrechterhält, die sich unendlich teilen können, aber gleichzeitig in der Lage sind, eine Vielfalt von differenzierten Zellen zu erzeugen, die die Funktion des Körper aufrechterhalten.

Forschende des Harvard Stem Cell Institute um Dr. Khalid Shah haben, um ein Beispiel für den Bereich der klinischen Forschung zu nennen, Stammzellen mit Zelltoxinen bestückt, welche im Rahmen des „Homing”, der Anlagerung an spezifische Gewebe im Körper, einen bestehenden Tumor aufsuchen und sich an der Zelloberfläche anlagern. Für einen derzeit unheilbaren Gehirntumor, das Glioblastom, welches rapide wächst und meist zu einem schnellen Tod der erkrankten Person führt, wurde hierzu ein Mausmodell entwickelt, das in wenigen Jahren innerhalb einer klinischen Studie auch am Menschen erprobt werden soll. Durch die Nutzung dieses stammzellspezifischen Mechanismus wurde das bisherige Problem umgangen, dass der Tumor für Medikamente relativ schlecht erreichbar ist und dass das Toxin entweder die eingebrachte Zelle selbst tötete oder dem gesunden, angrenzenden Gewebe schadete. 

Choi, S. H. / Kim, Y. H. / Hebisch, M. / Sliwinski, C. / Lee, S. / D’Avanzo, C. / Chen, H. / Hooli, B. / Asselin, C. / Muffat, J. / Klee, J. B. / Zhang, C. / Wainger, B. J. / Peitz, M. / Kovacs, D. M. / Woolf, C. J. / Wagner, S. L. / Tanzi, R. E. / Kim, D.Y. (2014): A three-dimensional human neural cell culture model of Alzheimer’s disease. In: Nature 515, 274–278. doi: 10.1038/nature13800 Online Version (Englisch)

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