Totipotenz und Pluripotenz

Die Begriffe Totipotenz und Pluripotenz werden im wissenschaftlichen Diskurs nicht einheitlich verwendet. In der klassischen Embryologie wird mit Totipotenz die Eigenschaft einer Zelle beschrieben, sich unter geeigneten Bedingungen zu einem vollständigen Organismus zu entwickeln. Im Kontext der Stammzellforschung bezeichnet Totipotenz dagegen das Vermögen einer Stammzelle, sich in alle Zellarten, d. h. nicht nur in embryonales Gewebe, sondern auch in extraembryonales Gewebe (z. B. plazentares Gewebe) und Zellen der Keimbahn, differenzieren zu können. 

Da Stammzellen sich im Laufe ihrer Entwicklung immer weiter differenzieren, verlieren sie an Entwicklungspotential. So verlieren sie bald die Möglichkeit, sich in vollständige Organismen zu entwickeln, behalten aber zunächst das Potential, sich in sämtliche Gewebetypen des Körpers zu differenzieren. Dieses Stadium wird als Pluripotenz bezeichnet. 

Verschiedene wissenschaftliche Erkenntnisse der letzten Jahre verschärfen die definitorische Unklarheit des Begriffs der Totipotenz zunehmend. 2009 konnte ein Forschungsteam zeigen, dass auch induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) theoretisch in der Lage sind, sich unter Zuhilfenahme des Verfahrens der tetraploiden Embryo-Komplementierung zu einem vollständigen Organismus zu entwickeln (siehe dazu das Modul Tetraploide Embryo-Komplementierung). Wissenschaftliche Arbeiten aus den Jahren 2012 und 2013 weisen außerdem darauf hin, dass einzelne Zellen im Zusammenhang der Zellkultur zwischen einem pluripotenten und totipotentem Status oszillieren können, und auch die 2019 beschriebene Gewinnung sogenannter Stammzellen mit erweitertem Potential (Expanded Potential Stem Cells, EPSCs) eröffnet die Frage, ob der Begriff der Totipotenz enger gefasst und anhand von einheitlichen Kriterien definiert werden muss. 

Derzeit ist weder ein Ausschluss vorhandener Totipotenz noch ihr Nachweis experimentell möglich. Totipotenz lässt sich vielmehr nur retrospektiv zuschreiben, wozu man entgegen ethischer Bedenken einen vollständigen Organismus aus der entsprechenden Zelle heranreifen lassen müsste.

Im Embryonenschutzgesetz (ESchG) wird jeder totipotenten menschlichen Zelle die volle Schutzwürdigkeit des menschlichen Embryos zuerkannt. Insofern hat der Begriff der Totipotenz ethische und rechtliche Implikationen:

Zur Bestimmung des Begriffs der „totipotenten Zelle” durch den Gesetzgeber vgl. § 8 EschG. 

Günther, H. / Taupitz, J. / Kaiser, P.(2014): Embryonenschutzgesetz. Juristischer Kommentar mit medizinisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen, Stuttgart: Kohlhammer.

Vgl. zu ethischen und rechtlichen Implikationen der Definition und Zuschreibung von Totipotenz:

Denker, H. (2000): Embryonale Stammzellen und ihre ethische Wertigkeit. Aspekte des Totipotenz-Problems. In: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 5, 291–304.

Hermann, I. / Heyer, M. (2010): Wirklich Alleskönner? Bericht über Forschungsergebnisse und ausgesuchte ethische und rechtswissenschaftliche Fragen der Stammzellforschung. In: Spranger, Tade (Hrsg.): Aktuelle Herausforderungen der Life Sciences, 159–188.

Baranzke, H. (2015): Der menschliche Embryo – Naturzweck oder Handlungszweck? Eine Kritik an Totipotenz und Potentialitätsargument in der Embryonenschutzdiskussion. In: Heinemann, Thomas / Dederer, Hans-Georg / Cantz, Tobias: Entwicklungsbiologische Totipotenz in Ethik und Recht: Zur normativen Bewertung von totipotenten menschlichen Zellen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 165–222.

Schickl, H. / Braun, M. / Dabrock, P. (2017): Ways Out of the Patenting Prohibition? Human Parthenogenetic and Induced Pluripotent Stem Cells. In: Bioethics 31(5), 409–417. doi: 10.1111/bioe.12334 Online Version (Englisch)

Einen Überblick über die Phänomene der Totipotenz und Pluripotenz aus naturwissenschaftlicher Sicht geben:

Beier, H. M. (2001): Zur Problematik von Totipotenz und Pluripotenz. In: Bundesministerium für Bildung und Forschung. Humane Stammzellen. Perspektiven und Grenzen in der regenerativen Medizin. Stuttgart, New York, 55–70.

Sgodda, S. (2015): Das Kriterium der Totipotenz aus naturwissenschaftlicher Perspektive. In: Heinemann, Thomas / Dederer, Hans-Georg / Cantz, Tobias: Entwicklungsbiologische Totipotenz in Ethik und Recht: Zur normativen Bewertung von totipotenten menschlichen Zellen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 13–55.

Ott, M. (2015): Bewertung von artifiziellen „totipotenten“ Stammzellen aus naturwissenschaftlicher und medizinischer Sicht. In: Heinemann, Thomas / Dederer, Hans-Georg / Cantz, Tobias: Entwicklungsbiologische Totipotenz in Ethik und Recht: Zur normativen Bewertung von totipotenten menschlichen Zellen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 67–77.

Vgl. für die genannten wissenschaftlichen Arbeiten:

Zhao, X. / Li, W. / Lv, Z. / Liu, L. / Tong, M. / Hai, T. / Hao, J. / Guo, C. / Ma, Q. / Wang, L. / Zeng, F. / Zhou, Q. (2009): iPS cells produce viable mice through tetraploid complementation. In: Nature 461, 86–90. doi: 10.1038/nature08267 Online Version (Englisch)

Abad, M. / Mosteiro, L. / Canamero, M. / Rayon, T. / Ors, I. / Grana, O. / Megías, D. / Dóminguez, O. / Martínez, D. / Manzanares, M. / Ortega, S. / Serrano, M. (2013): Reprogramming in vivo produces teratomas and iPS cells with totipotency features. In: Nature 502, 340–345. doi: 10.1038/nature12586 Online Version (Englisch)

Macfarlan, T. S. / Gifford, W. D. / Driscoll, S. / Lettieri, K. / Rowe, H. M. / Bonanomi, D. / Firth A. / Singer, O. / Trono, D. / Pfaff, S. L. (2012): Embryonic stem cell potency fluctuates with endogenous retrovirus activity. In: Nature 487, 57–63. doi: 10.1038/nature11244 Online Version (Englisch)

Gao, X. / Nowak-Imialek, M. /  Xi, C. et al. (2019): Establishment of porcine and human expanded potential stem cells. In: Nature Cell Biology 21, 687–699. doi: 10.1038/s41556-019-0333-2 Online Version (Englisch)

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