Urteil des BVerwG vom 02. März 2017

In seinem Urteil vom 02. März 2017 hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass Schwerkranke in „extremen Ausnahmesituationen" ein Recht auf Mittel zur Selbsttötung haben. Das Gericht hob damit zugleich Urteile vorangehender Rechtsinstanzen auf, die die Klage des Ehemannes einer vom Hals an abwärts gelähmten Patientin abgelehnt hatten, die im Jahr 2005 in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch genommen hatte. Im Jahr 2004 hatte das Bundesinstitut für Arzneimittel der Frau trotz eines klaren Suizidwunsches und starker, als entwürdigend empfundener Schmerzen die Erlaubnis verwehrt, zum Zweck der Selbsttötung eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital zu erwerben. Der Ehemann hatte gegen diese Entscheidung geklagt und das BVerwG gab der Klage Recht. In seiner Begründung verweist es auf das verfassungsrechtlich verankerte Persönlichkeitsrecht, das u. a. „auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Patienten" umfasst, „zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben beendet werden soll." Zwar gelte im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes weiterhin „grundsätzlich" das Verbot des Erwerbs tödlicher Medikamente. Das Selbstbestimmungsrecht gestatte hiervon jedoch in Extremfällen und beim Fehlen palliativmedizinischer Alternativen Ausnahmen für unheilbar kranke Menschen. Entscheidend sei, dass diese „wegen ihrer unerträglichen Lebenssituation frei und ernsthaft entschieden haben, ihr Leben beenden zu wollen".

Entscheid BVerwG 3 C 19.15 Online Version

Pressemitteilung des BVerwG vom 02. März 2017 Online Version

Das Urteil hat bei der Deutschen Stiftung Patientenschutz Kritik hervorgerufen. Das Kriterium einer unerträglichen Lebenssituation sei nicht hinreichend klar bestimmt und das Urteil falle Bemühungen um eine Suizidprävention in den Rücken. Im Anschluss an das Urteil haben Schwerkranke bereits vermehrt beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte um die Freigabe tödlicher Medikamente ersucht.

Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio erklärt das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in einem Rechtsgutachten, welches im Auftrag des BfArM erstellt wurde, für „verfassungsrechtlich nicht haltbar". Die Rechtsordnung des Grundgesetzes wolle Entfaltungsordnung für das Individuum sein, aber sie müsse und könne nicht ihre Grundwerte allein in die Disposition des Einzelnen stellen. Die freie individuelle Entscheidung habe in einer Gesellschaft, die den Einzelnen in den Mittelpunkt der Rechtsordnung stellt, ein außergewöhnlich hohes Gewicht und sie umfasse auch das Recht zur Selbsttötung. Personale Selbstbestimmung führe aber nicht zu einem absoluten Geltungsanspruch mit dem Ergebnis einer Pflicht zur Beteiligung des Staates an einer höchstpersönlichen Entscheidung. Sollte der Gesetzgeber Gefahren einer künftig entstehenden Routine zur Verabreichung tödlich wirkender Substanzen bis hin zur gesellschaftlichen Erwartung des Suizids und damit eine künftige Würdegefährdung durch staatliche Beihilfe zur Selbsttötung erkennen, sei er berechtigt, die Ausgabe der tödlichen Medikamente zu verweigern. Das BfArM sei zudem weder personell noch organisatorisch dafür ausgestattet, mit aller Sorgfalt zu prüfen, ob eine existenzielle Notlage nach den Kriterien des Bundesverwaltungsgerichts vorliegt, und dürfe an dieser Stelle gerade wegen der verfassungsrechtlichen Bedenken nicht im Zweifel für den Antragssteller entscheiden. Deswegen empfiehlt di Fabio dem Bundesgesundheitsminister, dem das BfArM unterstellt ist, einen Nichtanwendungserlass herauszugeben. Dies ist unter Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Juli 2018 geschehen. In einem Schreiben des Gesundheitsstaatssekretärs Lutz Stroppe an den Institutspräsidenten des BfArM, Karl Broich, wird das BfArM angewiesen, keinerlei Arzneimittel zum Zweck der Selbsttötung auszugeben.

Rechtsgutachten zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2017 Online Version

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