Urteile des BGH zur Sterbehilfe

Bisher hat der Bundesgerichtshof sechs Urteile zur Sterbehilfe getroffen.

Auführlichere Informationen zu den ersten vier Urteilen siehe Grimm, Carlo/ Hillebrand, Ingo (2009): Sterbehilfe. Rechtliche und ethische Aspekte. Band 8 der Reihe Ethik in den Biowissenschaften - Sachstandsberichte des DRZE. Alber: Freiburg im Breisgau. Online Version

Der erste verhandelte Fall betraf das sogenannte "Kemptener Urteil". Vor dem Landgericht Kempten wurden Betreuer und Arzt einer Wachkomapatientin verurteilt, da sie ohne Genehmigung des Vormundschaftsgerichts (heute: Betreuungsgericht) das Personal des Pflegeheims angewiesen hatten, die künstliche Ernährung der Patientin auf Tee umzustellen mit dem Ziel des baldigen, schmerzfreien Todes. Das Pflegepersonal war dieser Aufforderung jedoch aus rechtlichen Bedenken nicht nachgekommen, sondern hatte sich an das Vormundschaftsgericht gewandt, das wiederum die geplante Nahrungsumstellung untersagt hatte.

Die Kemptener Richter sahen in dem Vorgehen von Arzt und Betreuer nicht einen Versuch der zulässigen passiven Sterbehilfe, da der Tod der Patientin nicht unmittelbar bevorgestanden habe, sondern den Tatbestand des versuchten Totschlags.

In der Revision des Urteils vor dem Bundesgerichtshof wurden Betreuer und Arzt am 13. September 1994 freigesprochen: Bei einer unheilbar erkrankten, entscheidungsunfähigen Patientin könne das Absetzen der künstlichen Ernährung auch zulässig sein, wenn keine Todesnähe bestehe, nämlich dann, wenn dies dem mutmaßlichen Willen der Kranken entspreche. In dem verhandelten Fall konnte durch Aussagen bezeugt werden, dass die Patientin der geplanten Ernährungseinstellung mutmaßlich zugestimmt hätte, wodurch das Vorgehen der Beklagten gerechtfertigt gewesen sei.

Fallschilderung und Urteilsbegründung des BGH. Online Version

Vor dem Landgericht Kiel wurde im April 1995 der zweite Fall verhandelt, der anschließend beim BGH in Revision ging: Ein ärztlich tätiges Ehepaar hatte eine befreundete Rentnerin betreut, die sich im Sterben befunden hatte. Nach Beratschlagung mit einem weiteren Arzt hatten sie sich entschlossen, die Patientin nicht mehr in ein Krankenhaus zu verlegen, sondern sie daheim medikamentös zu versorgen. Kurz darauf war die Rentnerin gestorben.

Die Kieler Richter*innen kamen zu dem Ergebnis, dass die Frau an einer Überdosis des verabreichten Dolantin gestorben sei, welches das Ehepaar mit Tötungsabsicht injiziert hatte. Die Motive des Ehepaars dafür, warum sie sich zur Tötung entschlossen hatten, seien verschieden gewesen: Der Mann hätte die vermögende Rentnerin mittels eines gefälschten Testamentes möglichst schnell beerben wollen. Sein Tötungsmotiv sei demnach Habgier gewesen, sodass er wegen Mordes verurteilt wurde. Seine Frau hätte der Rentnerin hingegen einen schmerzvollen Sterbeprozess ersparen wollen. Da jedoch auch sie mit Tötungsabsicht gehandelt habe, wurde sie wegen Totschlags ebenfalls zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

In der Revision des Urteils vor dem Bundesgerichtshof wurde die Ehefrau am 15. November 1996 freigesprochen. Gemäß den Karlsruher Richtern liege ein Mangel an Beweisen für die Tötungsabsicht und für die Todesursächlichkeit der Dolantingabe vor: Es könne nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen werden, dass die Ärztin beabsichtigt hatte, die Sterbende durch therapeutisch gebotene, schmerzlindernde Medikation zu begleiten und dabei den beschleunigten Todeseintritt nicht intendiert hätte.

Erstmalig wurde so die indirekte Sterbehilfe für zulässig erklärt: "Eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen wird bei einem Sterbenden nicht dadurch unzulässig, daß sie als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann".

Ausführlichen Darstellung des Falles und Urteilsbegründung des BGH. Online Version

Der dritte Fall beschäftigte sich mit der Frage, in welchen Fällen die Anweisung einer Betreuungsperson durch das Vormundschaftsgericht (heute: Betreuungsgericht) genehmigt werden muss. Konkret wurde folgender Sachverhalt verhandelt:

Der Betreuer eines Wachkomapatienten hatte die Einstellung der künstlichen Ernährung beantragt, da eine Besserung des Gesundheitszustandes nicht zu erwarten und das Vorhaben im Sinne des Patienten gewesen seie. Als Beleg für Letzteres konnte sich der Betreuer auf eine schriftliche Willensbekundung des Betreuten berufen, in der das Einstellen der Ernährung bei irreversibler Bewusstlosigkeit gefordert wird.

Die Oberlandesgerichte Frankfurt und Karlsruhe beschlossen, dass eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung eingeholt werden muss, das Oberlandesgericht in Schleswig-Holstein verneinte dies jedoch, sodass der Bundesgerichtshof den Fall zu entscheiden hatte.

Die Karlsruher Richter kamen am 17. März 2003 zu dem Ergebnis, dass in diesem Fall eine vormundschaftsgerichtliche Zustimmung notwendig sei. Zwar habe der Betreuer dem Patientenwillen Geltung zu verschaffen, das Verweigern einer lebenserhaltenden- und verlängernden Maßnahmen (hier: der künstlichen Ernährung) müsse jedoch Gegenstand richterlicher Überprüfung sein. In diesem Verfahren sei sicherzustellen, dass die vorliegende Situation der in der Patientenverfügung beschriebenen entspricht.

Grundsätzlich wurde durch das Urteil dennoch der Status der Patientenverfügungen gestärkt: Ist "ein Patient einwilligungsunfähig und [hat] sein Grundleiden einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen, so [müssen] lebenserhaltende oder -verlängernde Maßnahmen unterbleiben, wenn dies seinem zuvor - etwa in Form einer sog. Patientenverfügung - geäußerten Willen" entspricht.

Urteilsbegründung des BGH und detaillierten Darstellung des Sachverhaltes. Online Version

Eine kritische Stellungnahme zum Urteil des BGH veröffentlichte die Bundeszentralstelle Patientenverfügung. Online Version

Der vierte Fall wurde im Juni 2005 entschieden. Ihm voraus gingen die Rechtssprüche des Oberlandesgerichts (OLG) München und des Landgerichts (LG) Traunstein, in dem die Klage eines Betreuers verhandelt worden war, der das Einstellen der künstlichen Ernährung eines von ihm zu betreuenden Wachkomapatienten entgegen den Willen der Heimleitung durchsetzen gewollt hatte. Die Pflegekräfte hatten sich geweigert der Anordnung nachzukommen, obgleich auch der behandelnde Arzt die Ernährungseinstellung empfohlen hatte. Dabei hatten sie sich einerseits auf einen zwischen Heim und Patient geschlossenen Vertrag berufen, in dem die Behandlungsdauer festgelegt worden sei und andererseits auf das Recht, die Anordnung aus Gewissensgründen zu verweigern.

OLG und LG wiesen die Klage des Betreuers ab. Während des Revisionsverfahrens verstarb der Patient, sodass Gegenstand der Verhandlung vor dem BGH lediglich die Frage war, wer die Kosten des Rechtsstreits zu übernehmen habe. Die Karlsruher Richter*innen urteilten, dass beide Parteien die durch den Prozess angefallenen Kosten zu tragen hätten, da die strafrechtlichen Grenzen der Sterbehilfe bislang nicht hinreichend klar erschienen. 

Entgegen der Auffassung des OLG entschied der BGH am 8. Juni 2005, dass erstens die vertragliche Vereinbarung über eine mögliche, zukünftige Behandlungsdauer unwirksam ist und dass zweitens den Pflegekräften kein Verweigerungsrecht zugesprochen werden kann. In der Begründung für den Urteilsspruch des BGH wurde u.a. angeführt: "Verlangt der Betreuer in Übereinstimmung mit dem behandelnden Arzt, daß die künstliche Ernährung des betreuten einwilligungsunfähigen Patienten eingestellt wird, so kann das Pflegeheim diesem Verlangen [...] nicht den Heimvertrag entgegensetzen. Auch die Gewissensfreiheit des Pflegepersonals rechtfertigt für sich genommen die Fortsetzung der künstlichen Ernährung in einem solchen Fall nicht".

Mit diesem Urteil stärkt der BGH die Patientenautonomie und die Wirksamkeit des aktuellen Patientenwillens. Die künstliche Ernährung durch eine Magensonde sei "ein Eingriff in die körperliche Integrität" und bedürfe so der Einwilligung der betreuten bzw. betreuenden Person. Eine Fortsetzung der Ernährung gegen den Patientenwillen stelle damit eine rechtswidrige Handlung dar. Der BGH sprach sich somit klar gegen "Zwangsbehandlungen" aus, auch wenn sie lebenserhaltend sei. Ebenso sei der Wunsch der Betroffenen zu beachten, auch wenn die geforderte Handlung (hier: die Ernährungseinstellung) mit dem eigenen Gewissen nicht vereinbar sei. Das "Selbstbestimmungsrecht der Pflegekräfte finde am entgegenstehenden Willen des Patienten bzw. des für ihn handelnden Betreuers - also an den Rechten anderer - ihre Grenze".

Zwar hätte das Pflegeheim die Möglichkeit gehabt, eine gerichtliche Überprüfung des Betreuendenhandelns anzuregen, notwendig wäre die Zustimmung des Betreuungsgerichts in diesem Fall jedoch nicht gewesen. Nur wenn Uneinigkeit zwischen ärztlicher Fachperson und Betreuung herrscht, z.B. wenn letztere medizinisch gebotene, lebenserhaltende Maßnahmen verweigert, bedarf es der Einschaltung des Gerichtes.

Urteilsbegründung und Fallschilderung. Online Version

Der Hintergrund des fünften Urteils war die am 30. April 2009 getroffene Entscheidung des Landgerichts Fulda, den Anwalt P. der Beihilfe zum Totschlag schuldig zu sprechen. Tochter und Sohn einer bereits seit fünf Jahren im Wachkoma liegenden Patientin hatten sich bemüht, dem ursprünglichen - von der Mutter mündlich geäußerten - Willen auf Abbruch einer Behandlung für den Fall einer solchen vorliegenden irreversiblen Situation zu entsprechen und auf eine Einstellung der künstlichen Ernährung über eine PEG-Sonde gedrängt.

Als es zu einem Kompromiss mit der Heimleitung gekommen war und die Ernährung zunächst eingestellt, auf Verlangen der Geschäftsleitung des Gesamtunternehmens gegen den Willen der Angehörigen aber wieder aufgenommen worden war, hatte der Anwalt zum eigenmächtigen Durchtrennen des Nahrungsschlauchs geraten. Diesem Rat waren die Geschwister gefolgt.

Die Heimleitung hatte daraufhin die Verlegung der Patientin in ein Krankenhaus veranlasst, in welchem die Ernährung wieder fortgesetzt worden war. Die Frau war wenige Tage darauf eines natürlichen Todes gestorben. 

Der Auffassung des Landgerichtes, dass das beratschlagende Verhalten des Anwaltes der Beihilfe zum Totschlag gleichkomme, schloss sich der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs mit seinem Urteil vom 25. Juni 2010 nicht an. Auf der Grundlage des 2009 erlassenen „Patientenverfügungsgesetzes“ urteilten die Richter*innen, dass das von der Patientin verfügte Einstellen der Behandlung unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung geschehen müsse. Die Wideraufnahme der künstlichen Ernährung gegen den ursprünglichen Willen der Frau werteten sie als einen Angriff der Heimleitung auf das Selbstbestimmungsrecht der Patientin. Auch ein „aktives Tun“, wie es das Durchtrennen des Nahrungsschlauchs darstelle, sei in der gegebenen Situation erlaubt.

Das Urteil gilt als Durchbruch für die Stärkung des Patientenwillens und sorgt für Klarheit in der Rechtsprechung.

Pressestelle des Bundesgerichtshofs (2010): Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens ist nicht strafbar. Online Version

Urteilsbegründung des BGH Online Version

Dem letzten und somit aktuellsten Urteil vom 17. September 2014 liegt der Fall einer Frau zugrunde, die im Jahr 2009 eine Gehirnblutung erlitten hatte und seitdem im Wachkoma lag. Ihr Ehemann und ihre Tochter, die zu ihrer Betreuung bestellt waren, hatten beim Betreuungsgericht beantragt, die künstliche Ernährung einzustellen und die Magensonde zu entfernen, da die Patientin sich vor ihrer Erkrankung gegenüber Familienangehörigen und Freunden im Fall einer schweren Krankheit gegen lebenserhaltende Maßnahmen ausgesprochen habe. Das Amtsgericht Stollberg und das Landgericht Chemnitz hatten die Anträge der Betreuenden jedoch abgelehnt, da die Patientin keine schriftliche Patientenverfügung hinterlassen hatte. Die früheren Äußerungen der Patientin, auf die sich ihre Angehörigen berufen hatten, hätten nicht die Qualität und Tiefe der Erklärungen, die im Rahmen einer Patientenverfügung abgegeben werden, so die Begründung des Landgerichts.

Der Bundesgerichtshof hob die Entscheidung der Vorinstanzen auf, da das Landgericht zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass wegen des nicht direkt bevorstehenden Todes der Patientin besonders strenge Anforderungen für die Feststellung des mutmaßlichen Patientenwillens gelten würden. Die Chemnitzer Richter*innen müssten nun etwaige geäußerte Behandlungswünsche der Frau neu ermitteln.

Urteilsbegründung des BGH Online-Version

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