Zweiklassengesellschaft

Weil sich Gerechtigkeitsvorstellungen im Laufe der Zeit verändern können, ist nicht auszuschließen, dass die Vision einer Zweiklassengesellschaft von enhancten Personen einerseits und nicht-enhancten Personen andererseits eines Tages ihren Schrecken verlieren könnte. Sollte sich irgendwann die Überzeugung durchsetzen, dass der Nutzen bestimmter Neuro-Enhancement-Präparate (NEP) den möglichen Schaden bei Weitem überwiegt, so könnten diejenigen, die sie nicht verwenden wollen, in ähnlicher (oder noch dramatischerer) Weise ins soziale Abseits geraten wie heutzutage Menschen, die sich der Nutzung der Mobiltelefonie verweigern. Ihre Ängste vor unbekannten Nebenwirkungen von NEPs würden für ähnlich irrational gehalten werden wie heute die Befürchtung, dass die Strahlen von Handys Hirntumore verursachen mögen. Eine liberale Gesellschaft würde selbstverständlich niemanden zwingen, gegen seinen Willen NEPs einzunehmen; sie würde es aber womöglich als selbstverschuldeten und deshalb nicht ungerechten Nachteil betrachten, wenn die Minderheit der eine kritische Haltung gegenüber Enhancement einnehmenden Personen keinen Zugang mehr zu bestimmten gesellschaftlichen Positionen hätte.

Während im Falle des pharmazeutischen Neuro-Enhancements Personen ihre Wettbewerbsnachteile gegenüber enhancten konkurrierenden Personen immerhin dadurch ausgleichen können, dass sie mehr oder weniger freiwillig selbst zu NEPs greifen, fiele diese Möglichkeit bei gentechnischen Enhancements weg. Wenn Eigenschaften über Eingriffe in die Keimbahn optimiert würden, könnten einflussreiche Positionen nur noch Menschen offen stehen, deren Eltern sie für diese gentechnisch fit gemacht haben. Weil die enhancten Personen ihre Vorteile im Sinne eines Erbprivilegs an ihre Nachkommenden weitergeben würden, könnte so eine extrem undurchlässige Zweiklassengesellschaft entstehen.

Bernward Gesang erläutert genauer, in welcher Weise verschiedene Formen des Enhancements zu unterschiedlichen Varianten von Zweiklassengesellschaften führen könnten:

Gesang, B. (2007): Der perfekte Mensch in einer „imperfekten“ Gesellschaft. In: Ders.: Perfektionierung des Menschen. Berlin: de Gruyter, 35–72.

Auch Sebastian Knell zeigt in seiner Monographie umfassende gerechtigkeitstheoretische Perspektiven auf Enhancement auf, konkret bezogen auf die biotechnische Verlängerung der menschlichen Lebensspanne, und zeichnet in diesem Kontext eine Zusammenhang zum Potential der Entstehung von Zweiklassengesellschaften nach:

Knell, S. (2015): Die Eroberung der Zeit. Grundzüge einer Philosophie verlängerter Lebensspannen. Berlin: Suhrkamp, 553–731.

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