Planetary Health und Bioethik
Autor: Dirk Lanzerath
Ob Menschen ein gesundes Leben führen können, hängt unter anderem von zahlreichen Umweltfaktoren ab: Ernährungssicherheit, Zugang zu sauberem Wasser, sauberer Luft, vielfältiger Natur, Schutz vor Krankheitserregern, extremer Hitze, Kälte oder Unwettern und vieles mehr. Die WHO geht derzeit von 3,6 Milliarden Menschen aus, die direkt gesundheitlich von der Klimakrise betroffen sind und rechnet in diesem Zusammenhang mit 250.000 zusätzlichen Todesfällen pro Jahr zwischen 2030 und 2050. Dabei darf nicht übersehen werden, dass es keineswegs nur um somatische Aspekte geht, sondern auch um Umwelteinflüsse auf die psychische Gesundheit. So führen etwa die mit der Klimakrise verbundenen Zukunftssorgen vermehrt zu Depressionen. Die Krise der vielfältigen Ökosysteme und insbesondere der Klimawandel machen deutlich, dass die Grundlagen des menschlichen Wohlbefindens erheblichen Bedrohungen ausgesetzt sind.
Vor diesem Hintergrund kann in aktuellen bioethischen Debatten festgestellt werden, dass diese Zusammenhänge zwischen menschlicher Gesundheit und der Gesundheit der den Menschen umgebenden Organismen sowie ökologischen und sozialen Systemen zunehmend in ihrer ganzen Komplexität wahrgenommen und erforscht werden. Hierfür hat sich der Begriff „Planetary Health“ etabliert. Dieser bietet die Einnahme einer umfassenderen Perspektive auf die Gesundheit und medizinische Zusammenhänge an, die auch in der Bioethik zu einem Umdenken geführt hat. Individuelle und kollektive Aspekte sollen stärker miteinander in Verbindung gebracht und Aspekte der medizinischen und der ökologischen Bioethik sollen deutlicher als bisher zusammengedacht werden. Denn ökologische Probleme sind nicht nur Probleme der Natur, sondern betreffen das menschliche Gelingen in seiner Gesamtheit.

In seinem Artikel „Refiguring Bios in Bioethics“ thematisiert Warwick Anderson die Notwendigkeit einer Neukonzeption der Bioethik im Kontext globaler Umweltkrisen und der Erfahrungen mit der COVID-19-Pandemie. Anderson argumentiert, dass sich traditionelle bioethische Ansätze in Krisensituationen vor allem auf situative moralische Urteile konzentrieren und dazu neigen, größere und komplexere systemische Zusammenhänge wie die Ökologie, in denen die Ursachen der Krise zu suchen sind, zu wenig zu berücksichtigen. Er empfiehlt daher die Etablierung einer „planetarischen Gesundheitsethik“, die den Zusammenhang zwischen menschlicher Gesundheit und globalen ökologischen Systemen stärker in den Blick nimmt.
Ein wesentlicher Gedanke des Artikels lautet, dass die COVID-19-Pandemie Anlass sein sollte, bioethische Überlegungen in Richtung einer nachhaltigeren und ökologischeren Perspektive zu erweitern. Anderson kritisiert, dass ethische Überlegungen während der Pandemie eher als reaktiv und ad hoc charakterisiert werden können und dass ethische Entscheidungen reflexartig getroffen wurden, ohne die zugrunde liegenden Umweltprobleme angemessen zu berücksichtigen. Er betont, dass die pandemische Ausbreitung von SARS-CoV-2 nicht nur als Gesundheitskrise, sondern auch als Symptom einer umfassenderen ökologischen Krise betrachtet werden sollte, die durch die Zerstörung von Ökosystemen und den Klimawandel verschärft wird.
Darüber hinaus betont der Artikel die Relevanz indigener Wissenssysteme und Philosophien für eine Neuformulierung der Bioethik. Denn indigene ökologisch-philosophische Ansätze enthalten wertvolle Einsichten in die Weisen, wie Menschen in größerem Einklang mit der Natur leben können. Diese Perspektiven könnten dazu beitragen, eine planetarische Gesundheitsethik zu entwickeln, die das Wohlergehen von Menschen, Tieren und Ökosystemen gleichermaßen berücksichtigt.
Anderson verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die historische Entwicklung der Bioethik. Der Begriff wurde ursprünglich von Van Rensselaer Potter in den 1970er Jahren eingeführt, um die Verbindung zwischen ethischem Denken und ökologischen Überlegungen zu betonen. Im Laufe der Zeit entfernte sich die Bioethik jedoch von diesem breiteren Ansatz und konzentrierte sich zunehmend auf medizinische und klinische Fragen, während ökologische und globale Gesundheitsfragen vernachlässigt wurden. Anderson empfiehlt stattdessen, zu Potters ursprünglicher Vision und Konzeption zurückzukehren und die Bioethik wieder enger mit Umweltethik und ökologischen Überlegungen zu verknüpfen.
Für eine funktionierende Praxis schlägt Anderson vor, dass Bioethiker:innen und Angehörige der Gesundheitsberufe sich stärker als öffentliche Fürsprecher:innen für den Umweltschutz engagieren sollten, indem sie sich nicht nur für die Gesundheit und das Wohlergehen der einzelnen Patient:innen einsetzen, sondern auch den Schutz und die Wiederherstellung der Umwelt fördern, da die menschliche Gesundheit untrennbar mit der Gesundheit des Planeten verbunden ist. Die COVID-19-Pandemie sollte als Weckruf verstanden werden, unsere ethischen Prinzipien zu überdenken und eine „ökologisierte“ Bioethik zu entwickeln, die die planetaren Herausforderungen unserer Zeit ernst nimmt. Diese grundlegende Neuorientierung der Bioethik verleiht ihr einen ganzheitlicheren Charakter und orientiert sich nicht nur an den kurzfristigen Bedürfnissen der Menschen, sondern auch an der langfristigen Gesundheit des Planeten, die wiederum der menschlichen Gesundheit zugute kommt.

Der Artikel „Global health, planetary health, One Health: conceptual and ethical challenges and concerns“ von Eduardo Missoni befasst sich kritisch mit den Konzepten der globalen Gesundheit bzw. Gesundheitsversorgung (Global Health), der planetaren Gesundheit (Planetary Health) und der One-Health-Bewegung. Auch Missoni legt dar, dass die COVID-19-Pandemie die Interdependenz zwischen menschlicher Gesundheit und Ökosystemen verdeutlicht hat und betont die Notwendigkeit eines erneuerten ethischen Verständnisses für die globale Gesundheitsversorgung. Dabei hinterfragt er insbesondere die neokolonialen Tendenzen der aktuellen globalen Gesundheitspolitik und fordert einen dekolonisierten, inklusiveren Ansatz.
Ein zentrales Element in Missonis Argumentation stellt die Kritik an der herkömmlichen Interpretation von Global Health dar. Der Begriff „Global Health“ werde häufig unreflektiert verwendet und diene oft nur als „kosmetisches“ Etikett für neokoloniale Ansätze in der internationalen Gesundheitsversorgung. Charakteristisch für die meisten aktuellen Gesundheitsinitiativen im Rahmen von „Global Health“ sei ein Top-Down-Ansatz, der von Akteur:innen im Globalen Norden bestimmt werde und die Bedürfnisse der Länder des Globalen Südens nur unzureichend berücksichtige. Missoni bezeichnet diese Art der Gesundheitsversorgung als eine „neue, entpolitisierte Version der kolonialen Medizin“, die in der Regel ohne ausreichende Reflexion von Machtverhältnissen und historischen Kontexten vermittelt wird.
Der Artikel betont, dass gerade die Pandemie die Defizite und Ungerechtigkeiten des gegenwärtigen globalen Gesundheitssystems aufgedeckt hat. Missoni kritisiert insbesondere die „Sicherheitslogik“ der globalen Gesundheit, die durch Bedrohungen wie Pandemien verstärkt wird und oft autoritäre Maßnahmen rechtfertigt, die die Freiheit und die Rechte der Betroffenen einschränken. Das Virus wurde in der öffentlichen Wahrnehmung häufig als „Feind“ dargestellt, was zu repressiven gesundheitspolitischen Maßnahmen führte. Missoni betont, dass die Pandemie vielmehr als „Syndrom“ betrachtet werden sollte, wobei Syndrom ein Zusammenspiel von biologischen und sozialen Faktoren bezeichnet, das nur durch einen ganzheitlichen Ansatz bewältigt werden kann, der Bildung, Beschäftigung, Wohnen, Ernährung und Umwelt umfasst.
Missoni geht auch auf die Konzepte der Globalen Gesundheit und der One-Health-Bewegung ein. Das Konzept der planetaren Gesundheit wurde als Erweiterung des Global-Health-Rahmens entwickelt, um die natürlichen Systeme, von denen die menschliche Gesundheit abhängt, besser zu berücksichtigen. Missoni ist jedoch der Ansicht, dass planetarische Gesundheit im Wesentlichen bereits Teil des umfassenden Verständnisses der globalen Gesundheitsversorgung sein sollte. Seiner Auffassung nach ist es vor allem die reduktionistische biomedizinische Perspektive, die die Notwendigkeit einer neuen Disziplin nahelegt.
One Health hingegen betrachtet die Gesundheit des Menschen in engem Zusammenhang mit der Gesundheit von Tieren und den Ökosystemen, in denen sie leben. Diese Perspektive betont die Notwendigkeit eines transdisziplinären und kooperativen Ansatzes von der lokalen bis zur globalen Ebene. Auch hier argumentiert Missoni, dass das Konzept von One Health in eine umfassende globale Gesundheitsperspektive eingebettet werden sollte.
Ein zentrales Anliegen des Artikels ist die Dekolonisierung der Vorstellung von globaler Gesundheit und Gesundheitsversorgung. Missoni postuliert die Notwendigkeit einer Gegenvision zu den derzeit dominierenden neokolonialen Strukturen, die maßgeblich von transnationalen Konzernen und an bestimmten menschlichen Interessen orientierten Kapitalismus geprägt sind. Eine dekolonisierte globale Gesundheitsperspektive müsse die lokalen Bedingungen und kulturellen Grundlagen von Gesundheit betonen und sich von einer rein westlich geprägten Sichtweise lösen. Diese Perspektive sollte durch Kooperation und Austausch zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden gestärkt werden.
Zusammenfassend postuliert Missoni ein erneuertes Verständnis von globaler Gesundheit, das auf Ethik, Gerechtigkeit und Interdisziplinarität basiert. Um eine gerechte und nachhaltige Gesundheitsversorgung für alle zu gewährleisten, sei es notwendig, strukturelle Ungerechtigkeiten zu überwinden.

Um den ethischen Herausforderungen der Konzeption von Global Health angemessen zu begegnen, spielt die Einordnung der Auswirkungen der Digitalisierung in der Praxis eine entscheidende Rolle. Der Beitrag „Digital Planetary Health Needs Ethical Guidance“ von Eric C. Ip stellt genau diesen Zusammenhang her und betont die Relevanz ethischer Orientierung in diesem Kontext. Die Digitalisierung, also die Verlagerung verschiedener Lebensbereiche auf digitale Plattformen, birgt ein großes Potenzial für die Förderung einer gesunden und nachhaltigen Gesellschaft sowie regenerativer Ökosysteme. Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) können beispielsweise zur Überwachung von Emissionen, zur Identifizierung des Wartungsbedarfs in Gesundheitseinrichtungen oder zur Analyse der Auswirkungen des Klimawandels eingesetzt werden. Dadurch könnten die Reduktion des CO₂-Fußabdrucks und die Verbesserung der Luftqualität erreicht werden, beispielsweise durch den Einsatz von Geodaten zur Überwachung von Naturkatastrophen.
Die Förderung der digitalen globalen Gesundheit wird bereits von mehreren internationalen Organisationen vorangetrieben. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) nutzt Daten zur Unterstützung der Entscheidungsfindung auf globaler, regionaler und lokaler Ebene. Projekte wie das „Global Methane Assessment“ demonstrieren das Potenzial der digitalen Nutzung zur Reduzierung von Methanemissionen, was zu Vorteilen für die globale Gesundheit führen könnte, z. B. zur Vermeidung vorzeitiger Todesfälle und asthmabedingter Krankenhausaufenthalte. Ein weiteres Beispiel ist die Initiative „Destination Earth“ der Europäischen Kommission, deren Ziel es ist, einen digitalen Zwilling der Erde zu simulieren. Damit sollen zukünftige Ereignisse vorhergesagt und gezielte Interventionen zur Verbesserung der globalen Gesundheit ermöglicht werden.
Die Digitalisierung birgt große Potenziale, aber auch Risiken. Der Energie- und Ressourcenverbrauch digitaler Technologien trägt dazu bei, die anthropogenen Auswirkungen auf die Umwelt zu verstärken. Zudem besteht eine digitale Kluft, die dazu führt, dass viele Menschen in einkommensschwachen Ländern keinen Zugang zu digitalen Plattformen und Technologien haben. Dies führt zu einer Verschärfung bestehender Ungleichheiten, da die Betroffenen nicht nur in Bezug auf grundlegende Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Wasser und Gesundheitsversorgung benachteiligt sind, sondern auch keinen gleichberechtigten Zugang zu digitalen Technologien haben.
Ip betont die Notwendigkeit einer ethischen Orientierung im Bereich der digitalen Weltgesundheit. Diese Ethik könne nicht in Maschinen einprogrammiert werden, da diese keine moralischen Entscheidungen treffen könnten. Sie müsse vielmehr von den Menschen entwickelt werden, die diese Technologien entwickeln und nutzen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass ethische Prinzipien wie Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Sorgfalt und Umsicht den Umgang mit digitalen Technologien prägen. So können algorithmische Verzerrungen und moralisches Fehlverhalten vermieden werden.
Der Autor unterstreicht die Bedeutung der Ausbildung eines klaren Habitus derjenigen Akteur:innen, die die Digitalisierung vorantreiben und verantworten. Eine „tugendhafte“ digitale Weltgesundheit sollte beispielsweise darauf abzielen, digitale Barrieren abzubauen und eine gerechte Verteilung des Zugangs zu digitalen Gesundheitsdiensten anzustreben. Entscheidungsträger:innen sollten sich für einen verbesserten Zugang zu Präventionsmaßnahmen und Gesundheitsdiensten einsetzen und dabei sicherstellen, dass alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen davon profitieren. Das Wohlergehen der menschlichen Zivilisation kann nicht ohne das Wohlergehen unseres Planeten erreicht werden.
Der Artikel schließt mit der Forderung nach einer Ethik der digitalen Weltgesundheit. Diese Ethik zielt sowohl auf die Förderung individueller Tugenden als auch auf einen fairen, transparenten und verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Technologien ab. Ihr Ziel ist es, die potenziell negativen Auswirkungen der Digitalisierung zu minimieren und sicherzustellen, dass die Digitalisierung tatsächlich zu einer nachhaltigen Verbesserung der Gesundheit von Mensch und Planet beiträgt. Gerade dieser Punkt macht deutlich, dass ein Konzept von Planetary Health auch zentrale Aspekte der Technik- und Digitalisierungsethik einbeziehen muss.
Bibliographie
Weiterführende Literatur
Jacobsen, K. H., Waggett, C. E., Berenbaum, P., Bayles, B. R., Carlson, G. L., English, R., Faerron Guzmán, C. A., Gartin, M. L., Grant, L., Henshaw, T. L., Iannotti, L. L., Landrigan, P. J., Lansbury, N., Li, H., Lichtveld, M. Y., McWhorter, K. L., Rettig, J. E., Sorensen, C. J., Wetzel, E. J., Whitehead, D. M., Winch, P. J. & Martin, K. (2024). Planetary health learning objectives: foundational knowledge for global health education in an era of climate change. The Lancet Planetary Health, 8(9), e706–e713. https://doi.org/10.1016/S2542-5196(24)00167-0