Künstliche menschliche Gameten (In-vitro-Gametogenese): Ethische Aspekte

Autorin: Aurélie Halsband

Bisher konnten menschliche Gameten, d. h. Samen- oder Eizellen, im Rahmen der human-medizinischen Forschung zur In-vitro-Gametogenese (IVG) noch nicht erzeugt werden. Da die Gewinnung von Gameten aus induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) bereits bei anderen Spezies im Labor gelungen ist, wird die künstliche Genese menschlicher Gameten in naher Zukunft erwartet. Eine technische Hürde, die hierfür überwunden werden muss, stellt gegenwärtig unter anderem die nur unvollständige genetische Reprogrammierung der benötigten Vorläuferzellen von menschlichen Gameten dar. Die potenzielle klinische Anwendung einer IVG könnte die Möglichkeit genetischer Elternschaft ebenso für infertile heterosexuelle Paare wie für gleichgeschlechtliche Paare bis hin zur Möglichkeit genetischer Elternschaft für Frauen nach der Menopause, für präpubertäre Menschen und für einzelne Personen (sog. Solo-Reproduktion) eröffnen. Eine Erzeugung menschlicher Gameten würde nicht nur reproduktionsmedizinische Verfahren und rechtliche Definitionen von Elternschaft, sondern auch ethische Erwägungen zu reproduktiver Autonomie und elterlicher Verantwortung grundlegend verändern. Die im Folgenden aufgeführten Publikationen aus den Jahren 2022 und 2023 betrachten ebenjene antizipierten Umbrüche aus einer ethischen Perspektive.

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In ihrem Beitrag „In vitro gametogenesis: A benefit for women at advanced and very advanced age? An ethical perspective“ betrachten Vasilija Rolfes et al. die Erzeugung von menschlichen Eizellen und die ethischen Implikationen für so genannte „Spätgebärende“, d. h. für Frauen, die älter als 35 Jahre („advanced age“) oder 45 Jahre („very advanced age“) sind. Das Ziel der Autor:innen ist es, bereits vor einer potenziellen klinischen Anwendung ethische Erwägungen aufzuzeigen und zu gewichten. Die Autor:innen verorten IVG zunächst in der übergreifenden ethischen Debatte zu Schwangerschaften von Frauen im fortgeschrittenen oder sehr fortgeschrittenen Alter. Gegenwärtig können Schwangerschaften sogenannter „spät gebärender Frauen“ zum Teil durch die reproduktionsmedizinischen Verfahren der Kryo-konservierung von Eizellen oder aber durch die Inanspruchnahme einer Spende fremder Eizellen unterstützt werden. Die in diesem Kontext auf das erhöhte Alter der Schwangeren bezogenen ethischen Erwägungen lassen sich ebenso zur Bewertung der IVG heranziehen. Beispielsweise wird zur Bewertung der IVG, wie auch der Kryokonservierung oder Spende von Eizellen, auf das Prinzip des Nicht-Schadens verwiesen: Da bei Frauen im höheren Alter das Risiko von Schwangerschaftskomplikationen ansteigt, werde durch die Anwendung der genannten Reproduktionstechnologien möglicherweise ein unzulässiger Schaden herbeigeführt. Allerdings könnten IVG ebenso wie die Kryokonservierung oder Spende von Eizellen auch als Instrument zur Verbesserung der Geschlechtergerechtigkeit verstanden werden, die es Frauen genauso wie Männern, bei denen die Fruchtbarkeit meist erst später im Lebensverlauf abnimmt, ermöglichen würde, auch in späteren Lebensphasen biologisch eigene Kinder zu bekommen. Zugleich, so geben die Autor:innen zu bedenken, könne aus dieser Möglichkeit jedoch auch eine neue Dimension der Ungleichbehandlung entstehen, da Personen mit Verweis auf die IVG beispielsweise von Arbeitgebenden dazu gedrängt werden könnten, den eigenen Kinderwunsch zugunsten beruflicher Ziele in spätere Lebensphasen zu verschieben. Für eine weitere Erforschung der klinischen Anwendung der IVG sprächen hingegen möglicherweise medizinische Vorteile der IVG gegenüber den Verfahren der Eizellkonservierung oder -spende, da letztere die mit gesundheitlichen Risiken verbundene hormonelle Stimulation erfordern, eine IVG hingegen nicht. Das Fazit von Rolfes et al. zur ethischen Bewertung der IVG fällt insgesamt kritisch aus: Angesichts der z. T. als erheblich betrachteten gesundheitlichen Risiken für Frauen, die auch mit dem Argument der verbesserten Geschlechtergerechtigkeit nicht aufgewogen werden könnten, sei eine kontinuierliche ethische Begleitung vor einer möglichen klinischen Anwendung der IVG in der Humanmedizin dringend angeraten.

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Die Bewertung der ethischen Zulässigkeit verschiedener Anwendungsmöglichkeiten der IVG ist dabei auch im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Eine 2022 veröffentlichte Studie der Medizinethikerin Heidi Mertes und weiterer Autor:innen, in der 1000 nicht-philosophisch ausgebildete Personen 2018 in einer repräsentativen Umfrage in Belgien zur Bewertung der verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten einer IVG befragt wurden, ergänzt die ethische Betrachtung der IVG. Bedenken, Missverständnisse und möglicherweise berührte Tabus, die im Austausch mit Fachfremden zutage treten, sollen auf diese Weise frühzeitig in die weitere Entwicklung der Reproduktionstechnologien wie auch in die ethische Bewertung ebendieser mit eingebracht werden. Insgesamt bewerteten die Befragten in Belgien die mögliche Anwendung einer IVG zur Infertilitätsbehandlung sowie im Kontext reproduktions-medizinischer Grundlagenforschung positiv. Aus einer stärker philosophisch motivierten Perspektive sind insbesondere diese Erträge der Umfrage weiterführend: Genetische Elternschaft wurde von knapp einem Viertel der Befragten als notwendige Bedingung einer gelingenden Eltern-Kind-Beziehung aufgeführt. Eine Einschätzung, die sich auch darin niederschlägt, dass für drei Viertel der Befragten die wichtigste Motivation für die Entwicklung der IVG in dem Ermöglichen von genetischer Elternschaft besteht. Anschließend hieran befürworteten zwei Drittel der Befragten eine potenzielle Anwendung der IVG für gleich-geschlechtliche Paare, nicht aber für die Gruppe postmenopausaler Frauen, bei der zwei Drittel der Befragten eine Anwendung der IVG ablehnten. Dass die Umfrage eher als Sammlung von Schlaglichtern auf gesellschaftliche Betrachtungen und nicht als Sammlung von ausgereiften Überlegungen zu nutzen ist, machen Mertes et al. an wesentlichen, zugrunde liegenden Widersprüchen zwischen den von den Befragten geäußerten Einstellungen fest. Insbesondere stehe das mehrheitliche Befürworten der Erforschung von IVG zur Infertilitätsbehandlung und zur Erweiterung des Grundlagenwissens im Widerspruch zu einer stark restriktiven Bewertung der dafür zwingend erforderlichen Forschung an Embryonen und Tieren. So lehnten etwa 45% der Befragten die Forschung an sogenannten überzähligen Embryonen aus abgeschlossenen Verfahren der In-vitro-Fertilisation (IVF) ab. Mertes et al. folgern hieraus die Notwendigkeit einer besseren öffentlichen Aufklärung über reproduktionsmedizinische Forschungsbereiche und die ihnen zugrunde liegenden Versuchspraktiken.

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Jenseits der potenziellen Nutzung von IVG zur reproduktionsmedizinischen Behandlung von Infertilität eröffnet die Kombination von IVG mit Technologien der Genomeditierung möglicherweise tiefgreifende Optionen einer reprogenetischen Optimierung (Enhancement). Diesem Themenfeld wenden sich in einem kontroversen Austausch von Argumenten Jon Rueda et al. mit dem Beitrag „The Morally Disruptive Future of Reprogenetic Enhancement Technologies“, De Proost et al. mit dem Beitrag „We Need to Talk About Disruption in Bioethics: A Commentary on Rueda, Pugh and Savulescu“ und die Replik der erstgenannten Autoren „Rethinking Techno-Moral Disruption in Bioethics, Society, and Justice“ zu. Rueda et al. antizipieren eine tiefgreifende Veränderung der menschlichen Reproduktion: Mithilfe einer erfolgreich implementierten IVG könnten nahezu unbegrenzt Ei- und Samenzellen und damit auch Embryonen erzeugt werden, die genetisch mit Wunscheltern verwandt sind. Während dies bisher nur breitere Möglichkeiten der Selektion von Embryonen für eine anschließende Übertragung in den Uterus eröffnete, bieten die Verfahren der Genomeditierung zusätzlich die Gelegenheit einer genetischen Edition der Gameten wie auch Embryonen hinsichtlich ausgewählter Eigenschaften. Die damit verbundene Möglichkeit, Embryonen, die nach allgemeinem Standard als gesund zu bezeichnen wären, bezüglich ihrer genetischen Anlagen gezielt zu verbessern, werde möglicherweise auch bisher ‚regulär‘ fertile Personen zur Nutzung der Reproduktion in vitro drängen. Daraus entstehe das Potenzial einer durch die Reproduktionstechnologien induzierten Disruption von Moral. Erstens könnten reproduktive Entscheidungsmöglichkeiten einschneidend verändert werden, indem etwa die Reichweite elterlicher Verantwortung auch hin zu einer notwendigen Rechtfertigung einer unterlassenen genetischen Optimierung ausgedehnt werden könnte. Zweitens könnten Gerechtigkeits-verständnisse grundlegend verschoben werden, insbesondere in einem möglichen Wandel der Interpretation von Beeinträchtigungen einzelner Personen als Ergebnis der genetischen Lotterie (Schicksalsschlag) hin zur Erfassung ebendieser Beeinträchtigungen als Ergebnis einer ungerechten Verteilung genetischer Eigenschaften. Schließlich könnte drittens das Verständnis von Gleichheit und Gleichstellung wesentlich in Frage gestellt werden, wenn reprogenetisch verbesserte Individuen und nicht-veränderte Individuen in ihren Eigenschaften und Fähigkeiten eklatant verschieden wären. Rueda et al. fordern abschließend von der weiteren ethischen Begleitung dieses Prozesses eine klare Trennung von Fakten und Werten, eine Abkehr von polarisierenden Positionen sowie die engmaschige und aufmerksame Kontrolle der Technologien und der mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen. Auf diese Weise ließe sich die von reproduktionsmedizinischen Technologien zu erwartende Disruption von Moral zumindest beeinflussen.

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In einem kritischen Kommentar hierzu halten De Proost et al. entgegen, dass reproduktions-medizinische Technologien weniger disruptiv auf Moral einwirken, sondern vielmehr vergangene, festgefahrene bioethische Debatten neu entfachen. Sie stellen die Konklusion von Rueda et al. auf gleich zwei Ebenen in Frage: Zunächst sei die höhere Verfügbarkeit von Embryonen und die damit verbundene, weitergehende Möglichkeit der Veränderung von Embryonen bereits seit der Einführung der IVF gegeben; IVG und Genomeditierung stellten in dieser Hinsicht also keine wesentliche Veränderung dar. Weiterhin sei zweitens das Ausloten bestehender ethischer Überzeugungen und Prinzipien angesichts der Einführung neuer Technologien gerade keine Disruption der Ethik. Dass die Disziplin der Ethik selbst nicht gefährdet sei, illustrieren sie unter anderem so: Die mögliche Einführung der IVG in Verbindung mit den Möglichkeiten der Genomeditierung könnte tatsächlich grundlegende Fragen nach dem fairen Zugang zu diesen Technologien und einer gerechten Kostenerstattung aufwerfen. Damit würden aber nicht die allgemeinen Überlegungen zu Fairness und Verteilungen hinfällig, sondern vielmehr die Notwendigkeit ersichtlich, ihre Begründung und Anwendung in einem neuen Kontext entsprechend zu reflektieren. Ethische Auseinandersetzungen im Rückgriff auf die Einführung neuartiger Technologien seien das ‚Alltagsgeschäft‘ der hierauf spezialisierten Bioethik und gerade keine Illustration ihrer Disruption, sondern ihrer Instrumentarien.

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In ihrer Replik auf den Kommentar präzisieren Rueda et al. ihre These dahingehend, dass reprogenetische Enhancement-Technologien nicht disruptiv auf die Disziplin der Bioethik einwirken, sondern auf die jeweilige moralische Praxis und damit auf die gesellschaftliche Ebene. Sie unterstreichen erneut die Notwendigkeit einer ethischen Begleitung der durch diese Technologien induzierten Veränderungen moralischer Einstellungen innerhalb von Gesellschaften und der hiermit verbundenen Implikationen für die Erforschung, die Anwendung sowie auch für die ethische Bewertung der Technologien zur Erzeugung und genetischen Editierung artifizieller menschlicher Gameten.

Bibliographie

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