Medizinische Forschung mit Minderjährigen

I. Medizinische Aspekte

Vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die medizinische Forschung zur Entwicklung einer Vielzahl von therapeutischen, diagnostischen und präventiven Verfahren geführt. Auch in der Pädiatrie (Kinderheilkunde) hat dieser Fortschritt seinen Niederschlag gefunden. Dennoch fällt die Bilanz der Neuentwicklungen in diesem Bereich, verglichen mit anderen Gebieten der Medizin, deutlich bescheidener aus. Der Kinderarzt Harry Shirkey hat in einem Beitrag aus dem Jahre 1968 den Begriff „therapeutic orphans” (dt. „therapeutische Waisen”) geprägt, um auf den Umstand hinzuweisen, dass Kinder im Vergleich zu Erwachsenen bei der Entwicklung neuer medizinischer Produkte und Verfahren vernachlässigt werden.

Nach wie vor erfolgt die medikamentöse Behandlung von Minderjährigen häufig mit so genannten „off-label” oder „off-licence” Produkten, d. h. mit Präparaten, für die wegen fehlender klinischer Studien entweder gar keine Zulassung für den Einsatz in der Pädiatrie vorliegt oder zumindest für den konkreten Anwendungsbereich eine entsprechende Zulassung fehlt. Kinderärztliche Fachkräfte müssen dann auf der Grundlage von Erfahrungswerten über die Verabreichung eines Medikaments entscheiden. Insbesondere müssen sie auch die Dosisbestimmung vornehmen, ohne dafür auf wissenschaftlich gesicherte Daten zurückgreifen zu können.

Auch wenn der „off-label”- bzw. „off-licence”-Einsatz von Medikamenten in der Pädiatrie verbreitet ist, so handelt es sich dabei aus medizinischer Sicht nur um eine Notlösung. Dies bemerkt auch die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ)und bemerkte in einer Stellungnahme 2012, dass Kinder keine „kleinen Erwachsenen” seien, denn „kleine Kinder sind nicht vergleichbar mit großen Kindern, Neugeborene sind nicht einfach kleine Kinder. Jedes Alter hat seine physiologischen und psychologischen Besonderheiten”. Unter Bezugnahme auf die Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen plädiert die Fachgesellschaft zudem für eine bessere Qualifikation des behandelnden Personals im medizinischen und pflegerischen Fachbereichs und setzt sich für die Repräsentation von Kinderrechten im deutschen Bundestag ein. 

Es ist oftmals nicht möglich, eine „reduzierte Erwachsenendosis” der Medikamente an Kinder und Jugendliche zu verabreichen, dies verdeutlichen die Beispiele des „grey baby syndrome” die „off-label”-Verschreibung von Antidepressiva an Minderjährige. 

Die pauschale Rede von Kindern kann in diesem Zusammenhang nicht als angemessen gelten. Vielmehr gilt es, mehrere Entwicklungsphasen bis hin zum Erwachsenenalter zu unterscheiden, die alle durch physiologische Besonderheiten charakterisiert sind. Nur die Durchführung gezielter klinischer Studien an Minderjährigen kann das Problem, dass es sich bei Kindern um „therapeutische Waisen” handelt, wirklich lösen.

Weiterhin besteht das Problem, dass der „off-label”- Einsatz von Medikamenten nur unter bestimmten Bedingungen, die das Bundessozialgericht in zwei Urteilen aus dem Jahr 2002 bzw. 2006 festgelegt hat, zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erfolgen kann. 

In bestimmten Bereichen der Kinderheilkunde, insbesondere in der Kinderonkologie, werden schon heute klinische Studien in großer Zahl durchgeführt. Schätzungen gehen sogar davon aus, dass beispielsweise in den USA ca. 70 % aller wegen Krebs behandelter Kinder Teil klinischer Studien sind. Dies wirft allerdings die Frage auf, ob dabei nicht wesentliche Unterschiede zwischen medizinischer Forschung und medizinischer Praxis missachtet werden. Auch in Deutschland werden klinische Prüfungen an Kindern durchgeführt, dies allerdings stagnierend in kleinem Maße, laut einer Evaluierung unter VFA-Mitgliedsunternehmen.

II. Rechtliche Aspekte

1. Europäisches Recht

Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union hat am 16. April 2014 die Verordnung (EU) Nr. 536/2014 („über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG”) erlassen. Diese Verordnung löst die zuvor maßgebliche Richtlinie Nr. 1901/2006 ab. Ziel der Verordnung EG Nr. 1901/2006 war es u. a., „die Entwicklung und die Zugänglichkeit von Arzneimitteln zur Verwendung bei der pädiatrischen Bevölkerungsgruppe zu erleichtern, zu gewährleisten, dass die zur Behandlung der pädiatrischen Bevölkerungsgruppe verwendeten Arzneimittel im Rahmen ethisch vertretbarer und qualitativ hochwertiger Forschungsarbeiten entwickelt und eigens für die pädiatrische Verwendung genehmigt werden, sowie die über die Verwendung von Arzneimitteln bei den verschiedenen pädiatrischen Bevölkerungsgruppen verfügbaren Informationen zu verbessern.” 

Die neue Verordnung EU Nr. 536/2014 ersetzt die Richtlinie 2001/20/EG und ergänzt sie etwa im Hinblick auf die Form der Zustimmung zu klinischen Studien (Art. 29). Das maßgebliche Ziel der Verordnung ist es, die Verfahren zur Beantragung und zur Genehmigung dieser Art von klinischen Prüfungen in den Mitgliedsstaaten zu harmonisieren. Gleichzeitig sollen Gruppen von vulnerablen Patient*innen besser geschützt werden. 

Mit dem Vierten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 20. Dezember 2016 werden die Maßgaben der EU Verordnung in nationales Recht überführt. Es beinhaltet insbesondere zahlreiche Änderungen am deutschen Arzneimittelgesetz (AMG).

2. Nationales Recht

Mit den Reichsrichtlinien zur Forschung am Menschen von 1931 gab es in Deutschland als erstem Land weltweit eine rechtliche Regelung zur medizinischen Forschung am Menschen. Und schon zuvor gab es mit der Anweisung an die Vorstehenden der Kliniken, Polikliniken und sonstigen Krankenanstalten des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten aus dem Jahre 1900 eine staatliche Richtlinie. Während die Anweisung die Forschung an Minderjährigen ausnahmslos untersagte, sahen die Reichsrichtlinien eine Erlaubnis für den Fall vor, dass es sich um Versuche ohne jegliche Gefahren für die minderjährigen Proband*innen handelte.

Eine umfassende spezialgesetzliche Regelung der Forschung am Menschen, wie sie bspw. derzeit in der Schweiz im Rahmen eines neuen Verfassungsartikels mit zugehörigem Gesetz diskutiert wird, besteht in Deutschland derzeit nicht. Speziell geregelt sind vor allem die klinische Prüfung von Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz - AMG) sowie von Medizinprodukten (Medizinproduktegesetz - MPG). Weitere Bestimmungen zur Forschung am Menschen finden sich darüber hinaus noch im Strahlenschutzgesetz (StrlSchG) und in der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV). Im Folgenden werden jedoch nur die Normen des Arzneimittelgesetzes näher dargestellt.

Der Schutz des Menschen bei klinischen Prüfungen von Arzneimitteln ist Gegenstand der §§ 40-42a des AMG. Dort ist u. a. festgeschrieben, dass vor Beginn einer klinischen Studie eine Risiko-Nutzen-Abwägung durchgeführt werden muss und dass Proband*innen nach entsprechender Aufklärung ihre informierte Einwilligung in die Teilnahme geben müssen. Zudem ist ein positives Votum einer unabhängigen Ethik-Kommission erforderlich. Speziell mit der Forschung an Minderjährigen befasst sind die §§ 40 IV und 41 II.

Grundsätzlich gilt, dass die klinische Prüfung an Minderjährigen im Vergleich zu der an Erwachsenen zusätzlichen Restriktionen unterliegt, insbesondere sieht § 40 IV Nr. 2 vor, dass eine klinische Prüfung an Minderjährigen nur dann statthaft ist, wenn eine Prüfung an Erwachsenen (oder auch andere Forschungsmethoden) nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft keine ausreichenden Prüfergebnisse erwarten lässt. Außerdem muss gemäß § 40 IV Nr. 1 das Arzneimittel zum Erkennen oder zum Verhüten von Krankheiten bei Minderjährigen bestimmt und die Anwendung des Arzneimittels nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft angezeigt sein, um bei dem Minderjährigen Krankheiten zu erkennen oder ihn vor Krankheiten zu schützen. Anders gewendet bedeutet dies: Klinische Prüfungen mit Minderjährigen sind nur dann erlaubt, wenn Erwachsene aus methodischen Gründen als Proband*innen nicht in Betracht kommen, der Gegenstand der Prüfung therapeutischen, diagnostischen oder präventiven Nutzen für Minderjährige in Aussicht stellt und zudem die Anwendung bei den beteiligten kindlichen Proband*innen selbst medizinisch indiziert ist. Beispielsweise ist die Erprobung eines neuen diagnostischen Verfahrens an einem gesunden Kind gemäß §40 IV Nr. 1 nicht erlaubt, wohl aber die Prüfung neuer Impfstoffe, da diese für die kindlichen Proband*innen selbst einen medizinischen Nutzen erwarten lassen. § 40 IV Nr. 3 regelt die Einwilligung bei minderjährigen Proband*innen. Diese erfolgt als stellvertretende Einwilligung zunächst durch die gesetzliche Vertretung des*der Minderjährigen; sie muss jedoch dem mutmaßlichen Willen der*des Minderjährigen entsprechen. Aber auch die*der Minderjährige selbst muss vor Beginn einer klinischen Prüfung von einer im Umgang mit Minderjährigen erfahrenen Prüfperson seinem Alter bzw. seiner geistigen Reife entsprechend aufgeklärt werden. Eine Ablehnung der Teilnahme durch die*den Minderjährigen ist zu beachten. Ist der*die minderjährige Proband*in selbst in der Lage, Wesen, Bedeutung und Tragweite der in Frage stehenden klinischen Prüfung zu begreifen (und seinen Willen danach auszurichten), so ist auch ihre*seine Einwilligung erforderlich.

Während § 40 AMG allgemeine Voraussetzungen der klinischen Prüfung enthält, werden in § 41 besondere Voraussetzungen benannt; genauer geht es hier um den Fall, dass Kranke als Proband*innen herangezogen werden sollen. Handelt es sich dabei um Minderjährige, muss das zu prüfende Arzneimittel nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft angezeigt sein, das Leben der betroffenen Person zu retten, ihre Gesundheit wiederherzustellen oder ihr Leiden zu erleichtern (§ 41 II Nr. 1) oder es muss für die Gruppe der Behandelten, die an der gleichen Krankheit leiden wie die betroffene Person, mit einem direkten medizinischen Nutzen verbunden sein (§ 41 II Nr. 2 a). In letzterem Fall muss die Forschung zudem für die Bestätigung von bereits vorhandenen Daten unbedingt erforderlich sein (§ 41 II Nr. 2 b), die Forschung muss sich auf einen klinischen Zustand beziehen, an dem die*der betroffene Minderjährige selbst leidet (§ 41 II Nr. 2 c) und die Forschung darf nur mit minimalen Risiken und minimalen Belastungen verbunden sein (§ 41 II Nr. 2 d). Dabei ist ein nur minimales Risiko dann gegeben, wenn nach Art und Umfang der Intervention zu erwarten ist, dass sie allenfalls zu einer geringfügigen und vorübergehenden Gesundheitsbeeinträchtigung führen wird. Desgleichen ist von einer minimalen Belastung dann auszugehen, wenn die Unannehmlichkeiten für die betroffene Person allenfalls vorübergehend auftreten und sehr geringfügig sein werden.

Die erst durch die 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes im Jahre 2004 erfolgte Legalisierung so genannter gruppennütziger Forschung nach § 41 II Nr. 2 ist äußerst umstritten. Durch das Vierte Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 20. Dezember 2016 werden erhebliche Änderungen am Arzneimittelgesetz vorgenommen. Diese betreffen u. a. die Ethik-Kommissionen, aber auch die Forschung an einwilligungsunfähigen Erwachsenen. Auf der Grundlage des geänderten Gesetzes ist unter bestimmten Voraussetzungen auch die gruppennützige Forschung mit einwilligungsunfähigen Erwachsenen zulässig. Kritisiert wurde hieran, dass Minderjährige als eine Teilgruppe der Einwilligungsunfähigen weiterhin nicht mit den anderen Teilgruppen gleichgestellt sind. So ist gruppennützige Forschung mit einwilligungsunfähigen Erwachsenen unter anderem nur dann zulässig, wenn ein direkter eigener Nutzen für die Teilnehmenden vorliegt. Bei Minderjährigen ist dies nicht zwingend erforderlich. Den Hintergrund dieser Bestimmung bildet wohl das Bestreben, den off-label-Gebrauch von Arzneimitteln bei Minderjährigen zu reduzieren. Auch stellt die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit von Minderjährigen vorwiegend auf Altersgrenzen ab, wohingegen bei Erwachsenen stärker einzelfallbasiert Ausmaß und Vorliegen einer Einwilligungsunfähigkeit bestimmt wird.

Das AMG erfordert weiterhin gemäß § 42 I das zustimmende Votum einer Ethik-Kommission als Voraussetzung für die rechtmäßige Durchführung einer klinischen Studie. Handelt es sich um eine klinische Studie mit Minderjährigen und verfügt die Kommission nicht selbst über Fachkenntnisse auf dem Gebiet der Kinderheilkunde, muss sie eine sachverständige Person hinzuziehen oder Gutachten anfordern.

3. Richtlinien und Stellungnahmen

Die wohl einflussreichste internationale Richtlinie zur Forschung am Menschen ist die Declaration of Helsinki des Weltärztebundes (World Medical Association), die erstmals im Jahre 1964 verabschiedet wurde und seitdem kontinuierlich fortgeschrieben wird. Auch hier wird in Nr. 27 davon ausgegangen, dass Forschung an Minderjährigen nur dann legitim ist, wenn vergleichbare Resultate durch Versuche an (einwilligungsfähigen) Erwachsenen nicht zu erzielen sind. Außerdem sollte mit der Forschung zumindest ein Gruppennutzen sowie nur ein minimales Risiko und eine minimale Belastung für die Minderjährigen verbunden sein. Ferner muss nach Nr. 28 eine gesetzliche Vertretung ihre Einwilligung in die Teilnahme der*des minderjährigen Probandin*Probands gegeben haben sowie die*der betroffene Minderjährige selbst - wenn möglich - ihre*seine Zustimmung.

Anders als das Arzneimittelgesetz (AMG) unterscheidet die Deklaration von Helsinki nicht zwischen gesunden und kranken Proband*innen, Erwachsenen und Minderjährigen sowie zwischen eigen- und gruppennütziger Forschung. Diese Unterscheidungen gelten im AMG als wesentlich für die Forschungspraxis.

Kritik wird an der Umsetzbarkeit der in der Deklaration festgeschriebenen Grundsätze geübt. So seien etwa beim Einverständnis der Proband*innen nicht genug Ausnahmen berücksichtigt worden, was eine strikte Befolgung ethisch bedenklich mache. Dies betreffe auch den Umgang mit einwilligungsunfähigen Proband*innen. Innere Inkonsistenzen, etwa bezüglich der Verbindung von Forschungsinterventionen und klinischer Behandlung, sind Kritiker*innen zufolge ebenso eine Schwäche der (2008 zuletzt geänderten) Deklaration wie das Abweichen mehrerer Positionen von der Mehrheitsmeinung der medizinethischen Fachwelt. Die Deklaration tauge somit nicht als unhintergehbares ethisches Minimum.

Ein weiteres einflussreiches internationales Dokument zur Forschung am Menschen stellt das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarates (Council of Europe) aus dem Jahr 1997 dar, das von Deutschland bislang allerdings nicht ratifiziert worden ist. Auch in diesem Text werden zunächst allgemeine Regeln für die Forschung am Menschen formuliert (Art. 16). Gefordert werden u. a. die Alternativlosigkeit des Humanexperiments, eine positive Risiko-Nutzen-Bilanz sowie die informierte Einwilligung der betroffenen Person. Art. 17 enthält darüber hinausgehende Bestimmungen für Forschung an Nichteinwilligungsfähigen, wozu auch Minderjährige zählen. Wiederum werden als Bedingungen für die Zulässigkeit gesetzt, dass vergleichbare Forschung mit einwilligungsfähigen Proband*innen nicht möglich ist, die Einwilligung einer gesetzlichen Vertretung vorliegt und die Person selbst die Teilnahme nicht ablehnt. Zudem wird gefordert, dass ein direkter medizinischer Nutzen mit der Teilnahme für die einwilligungsunfähigen Proband*innen verbunden ist (Art. 17 I). In Ausnahmefällen sieht Art. 17 II allerdings vor, dass auch Forschung, die nur einen Gruppennutzen in Aussicht stellt, erlaubt sein sollte, jedoch nur, wenn durch die Forschung eine wesentliche Erweiterung des wissenschaftlichen Verständnisses des Zustandes, der Krankheit oder der Störung der Person zu erwarten ist und die Forschung mit nur minimalen Risiken und nur minimalen Belastungen verbunden ist. Nicht zuletzt die Bestimmungen des Art. 17 haben zu scharfem Widerspruch gegen das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin in Deutschland geführt. Kritiker*innen sehen darin die Bereitung einer legalen Grundlage für die, in ihren Augen unvertretbare Forschung an Einwilligungsunfähigen. Mit der 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes sind freilich unterdessen ähnliche Bestimmungen ins nationale Recht aufgenommen worden (s. o.).

Im Jahre 2004 hat die Zentrale Ethikkommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten bei der Bundesärztekammer (ZEKO) eine Stellungnahme zur Forschung mit Minderjährigen veröffentlicht. Darin fordert sie die Gesetzgebung auf, die Voraussetzungen, das grundsätzliche Verfahren sowie die wesentlichen Maßstäbe für Forschung mit Minderjährigen zu regeln (§ 4.1). Nach Ansicht der ZEKO macht Forschung Minderjährige nicht zum Objekt im Sinne der Rechtssprechung zum Art. 1 I GG. Dies sei nur dann gegeben, wenn mit der Forschung kein Nutzen für die Behandelten oder ihre Gruppe verbunden sei (§ 4.2). Als Voraussetzungen für die Vertretbarkeit gruppennütziger Forschung mit Minderjährigen nennt die ZEKO die Ermittlung und Bewertung des möglichen Nutzens sowie möglicher Risiken und Belastungen, das Fehlen einer alternativen Forschungsmethode (§ 4.3) und die Zustimmung der Eltern (§ 4.4). Forschungsprojekte dürften, so die ZEKO weiter, nur dann durchgeführt werden, wenn das Verhältnis von Nutzen und Risiken angemessen sei und die Risiken und Belastungen (im Regelfall) nur minimal seien (§§ 4.5, 4.6). Zur Minimierung psychischer Risiken und Belastungen empfiehlt die ZEKO die Beteiligung unabhängiger Personen, die im Umgang mit Minderjährigen erfahren sind, das Vertrauen der*des Minderjährigen besitzen und deren*dessen Interessen wahrnehmen (§ 4.7). Ferner fordert die ZEKO, dass Minderjährige ihrem Verständnis gemäß in den Entscheidungsprozess mit einbezogen werden (§ 4.8). Schließlich sollen nach Abschluss eines Projekts die Teilnehmenden und Erziehungsberechtigten in geeigneter Form über die Ergebnisse informiert werden (§ 4.9). 

Im Jahr 2012 veröffentlichte der Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen in Deutschland eine Neuauflage ihrer Empfehlungen zur Begutachtung klinischer Studien durch Ethik-Kommissionen. In den Empfehlungen wird auf die oft fehlende Rückbindung national und international erscheinender Leitlinien an deutsche Gesetze verwiesen, etwa das erhöhte Schutzniveau Nichteinwilligungsfähiger – verankert im Arzneimittelgesetz – betreffend.

Im Jahr 2011 veröffentlichte der Europarat einen Leitfaden für Ethik-Kommissionen, die klinische Studien vor der Durchführung begutachten. In Kapitel 7.2 gehen die Verfassenden explizit auf die Einbeziehung von Kindern in klinische Studien ein.

III. Ethische Aspekte

Die Frage nach der ethischen Vertretbarkeit von biomedizinischer Forschung mit Minderjährigen stellt ein außerordentlich schwieriges Problem innerhalb der Forschungsethik dar und wird entsprechend seit langem intensiv diskutiert. Die besondere Schwierigkeit des Problems liegt darin begründet, dass zwei widerstreitende moralische Intuitionen aufeinander stoßen: Einerseits müssen Minderjährige als besonders schutzbedürftig gelten, was ein generelles Verbot oder zumindest eine weitgehende Beschränkung von biomedizinischen Humanexperimenten im Bereich der Pädiatrie plausibel erscheinen lässt. Andererseits impliziert eine weitgehende Beschränkung pädiatrischer Forschung einen deutlich langsameren Fortschritt der Medizin in diesem Bereich, wenn nicht gar einen Stillstand und setzen dem ethischen Gebot, angewendete therapeutische Verfahren durch klinische Studien auf Nutzen und Risiken zu überprüfen, Grenzen.

Die informierte Einwilligung stellt eines der zentralen Prinzipien der Ethik der Forschung am Menschen dar. Humanexperimente können demnach grundsätzlich nur dann als ethisch vertretbar gelten, wenn die betroffenen Proband*innen vor der Durchführung über Wesen, Bedeutung und Tragweite eines Versuchs aufgeklärt worden sind und daraufhin ihre informierte Einwilligung in die Teilnahme erteilt haben. Dieser Gedanke findet sich in allen einschlägigen forschungsethischen Kodizes sowie in den entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen. Im Unterschied zu Erwachsenen sind Minderjährige oftmals aufgrund mangelnder kognitiver Fähigkeiten nicht in der Lage selbst eine informierte Einwilligung zu erteilen. Daher, so eine mögliche Position, ist Forschung an Minderjährigen zumindest dann ethisch unvertretbar, wenn mit ihr kein direkter medizinischer Nutzen für die minderjährigen Proband*innen verbunden ist; lediglich therapeutische Forschung wäre demnach statthaft. Eine entsprechende Position hat beispielsweise der amerikanische Bioethiker Paul Ramsey in seinem Buch „The Patient as Person” aus dem Jahre 1970 vertreten.

Der Umstand, dass medizinische Forschung an Minderjährigen erforderlich ist, um neue und effektive Verfahren für die Pädiatrie zu entwickeln, darf als allgemein anerkannt gelten. Da es sich dabei keineswegs um ein wertneutrales Handlungsziel handelt, sondern im Gegenteil die Bereitstellung effektiver Behandlungsmöglichkeiten moralisch höchst wünschenswert ist, haben viele Ethiker*innen nach Argumenten gegen die Position der grundsätzlichen Unzulässigkeit, wie sie etwa von Ramsey vertreten wird, gesucht. Unstreitig ist dabei, dass die Einwilligung eines gesetzlichen Vertreters sowie die Alternativlosigkeit notwendige Bedingungen darstellen. Darüber hinaus lassen sich grob drei Ansätze unterscheiden: 1. die unterstellte Einwilligung, 2. der erzieherische Nutzen als Rechtfertigungsgrund und 3. das Konzept des minimalen Risikos und 4. die Eltern als Interessenvertretung des Kindes.

1. Die unterstellte Einwilligung

Ein erster Ansatz geht davon aus, dass man angesichts des moralischen Wertes der Teilnahme an einem Humanexperiment die Einwilligung der*des Minderjährigen unterstellen dürfe. Richard McCormick hat diese Position als direkte Antwort auf Ramseys These von der grundsätzlichen Unvertretbarkeit entwickelt. Man müsse, so McCormicks zentrales Argument, keineswegs davon ausgehen, dass die minderjährige Testperson die Teilnahme an einem medizinischen Versuch ablehne. Im Gegenteil könne man annehmen, dass sie*er, verfügte sie*er über die erforderlichen Fähigkeiten, ihre*seine Einwilligung erteilen würde, weil es moralisch richtig wäre so zu entscheiden. Aus diesem Grund sei, so die Schlussfolgerung, Ramseys These von der ethischen Unvertretbarkeit fremdnütziger Forschung an Minderjährigen falsch. Eine naheliegende Kritik an diesem Ansatz lautet, dass eine vergleichbare Annahme bei einwilligungsfähigen Erwachsenen nicht gemacht werde und folglich nicht einzusehen sei, warum sie bei Minderjährigen zulässig sein sollte.

2. Der erzieherische Nutzen als Rechtfertigungsgrund

Den Anknüpfungspunkt für einen zweiten Ansatz bildet der Umstand, dass Forschung mit Minderjährigen dann als ethisch vertretbar angesehen wird, wenn mit der Forschung ein unmittelbarer Nutzen für die minderjährigen Proband*innen verbunden ist. Während dabei zumeist von einem unmittelbaren medizinischen Nutzen ausgegangen wird, machen Vertreter*innen dieses Ansatzes geltend, dass auch andere Arten von Nutzen hierbei berücksichtigt werden können und müssen. So hat die Teilnahme an einem Humanexperiment auch einen erzieherischen Nutzen für minderjährige Proband*innen, insofern dadurch so grundlegende soziale Fähigkeiten wie Altruismus und Solidarität gefördert werden. Deshalb könnten auch Experimente ohne direkten medizinischen Nutzen als ethisch vertretbar gelten. Dies erscheint plausibel, wenn man bedenkt, dass Kinder in vielen Fällen den familiär als wichtig betrachteten oder akzeptierten Normen ungefragt unterworfen werden, da Sozialisation und Erziehung von Kindern anders kaum möglich ist. Streitig ist hierbei einerseits, ob ein erzieherischer Nutzen wirklich die behauptete legitimatorische Kraft entfalten kann, andererseits machen Kritiker*innen geltend, dass ein Verständnis für altruistisches Handeln erst ab einem bestimmten Reifegrad angenommen werden kann und Forschung mit kleineren Kindern somit durch diesen Ansatz nicht zu rechtfertigen ist.

3. Das Konzept des minimalen Risikos

Ein dritter Ansatz, der vor allem in der US-amerikanischen Debatte große Bedeutung hat, setzt beim Risikoprofil von Humanexperimenten an. Sind, so die Überlegung, mit einem Humanexperiment nur minimale Risiken und Belastungen, die zum Teil nur vor dem Hintergrund eines eng gefassten Eingriffsbegriffs als Eingriff verstanden werden können, verbunden, dann kann von dem Erfordernis einer persönlichen Einwilligung abgesehen werden und die Einwilligung der gesetzlichen Vertretung reicht zur ethischen Rechtfertigung aus. Zunächst wirft dieser Ansatz die Frage auf, ob nicht die Verwendung von Menschen im Rahmen medizinischer Versuche ohne deren Einwilligung aus ethischer Perspektive grundsätzlich problematisch ist, unabhängig von etwaigen Risiken und Belastungen. Ist dies der Fall, dann vermag der Verweis auf nur minimale Risiken und Belastungen keine ethische Rechtfertigung zu erbringen. Ferner sieht sich dieser Ansatz mit Problemen konfrontiert, die der Risikobegriff aufwirft. Insbesondere halten es viele Diskussionsteilnehmende für zweifelhaft, dass hinreichend klar zu fassen ist, was ein nur minimales Risiko darstellt bzw. ob eine objektive Festlegung geeignet ist, die Wertungen individueller Proband*innen angemessen zu berücksichtigen. Selbst bei der Bewertung gruppennütziger Forschungsvorhaben mit mehr als minimalem Risiko ging die Meinung deutscher Ethikkommissionen laut einer Studie auseinander. Empirische Untersuchungen belegen, dass Vorgaben wie „minimales Risiko” oder „minimale Belastung” unterschiedlich interpretiert werden. Aus diesem Grund werden diese zunächst abstrakten Grenzziehungen zunehmend anhand klinischer Beispiele konkretisiert und mit Empfehlungen verbunden.

4. Die Eltern als (vorläufige) Interessenvertreter des Kindes

Der Medizinethiker Giovanni Maio stellt demgegenüber die Frage, ob fremdnützige Forschung tatsächlich eine ethisch nicht gerechtfertigte Verzweckung der minderjährigen Versuchsperson darstelle. Es bestehe eine Spannung zwischen dem Verbot der Instrumentalisierung der Versuchsperson und dem Gebot, mögliche Hilfeleistungen für zukünftige Kinder zu ermitteln. Nach Maio sei die Einbeziehung minderjähriger Proband*innen in fremdnützige Studien nur dann grundsätzlich illegitim, wenn dabei die Würde des Kindes verletzt wird. Über die Zumutbarkeit im Sinne des Kindeswohls sollten daher die Eltern als Interessenvertretung des Kindes entscheiden.

Darüber hinaus sollte jedoch auch die*der minderjährige Proband*in selbst in Abhängigkeit von seiner*ihrer geistigen Reife in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. In der Praxis ist oft schwer zu bestimmen, wann ein Kind zu einer solchen Einwilligung wirklich in der Lage ist. Zumindest eine Ablehnung der Studienteilnahme sollte jedoch schon vor dem Zeitpunkt der vollen Entscheidungsfähigkeit respektiert werden.

IV. Sonderfälle in der Forschung mit Minderjährigen

Zwar gelten für alle Bereiche der Pädiatrie identische gesetzliche Vorgaben und ethische Anforderungen, zwei Schwerpunkte der Kinderheilkunde sind jedoch hervorzuheben.

Die pädiatrische Onkologie hebt sich bezüglich der Etablierung von Studien deutlich von anderen Fachgebieten ab. Die Durchführung von multizentrischen Studien und die daraus abgeleiteten Behandlungsmöglichkeiten ließen die Heilungsrate von an Krebs erkrankten Minderjährigen international von rund 15 % Anfang der 1970er Jahre auf mittlerweile rund 70 % steigen. Allerdings stehen medizinisches Personal sowie Ethiker*innen auch hier vor der schwierigen Aufgabe der Aufklärung der Kinder und Eltern sowie der Abwägung zwischen Schutz der Proband*innen und Erkenntnisgewinn/Nutzen für die Behandelten. Die hohe Zahl der Studien wirft zudem die Frage auf, ob dabei nicht wesentliche Unterschiede zwischen medizinischer Forschung und medizinischer Praxis missachtet werden.

In der Neonatologie kommen nach Meinung von Fachgrößen viele Medikamente zum Einsatz, die zuvor nicht an Behandlungsgruppen getestet wurden. Die mitunter gravierenden Folgen für die Gesundheit der Neugeborenen führen Fachleute zu der Frage, ob nicht sämtliche Behandlungen in der Neonatologie im Rahmen klinischer Studien durchgeführt werden sollten. Allerdings würde dann auch hier die Unterscheidung von Forschung und medizinischer Praxis zur Disposition gestellt.

Zitiervorschlag

Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (2022): Im Blickpunkt: Medizinische Forschung mit Minderjährigen. URL https://www.drze.de/de/forschung-publikationen/im-blickpunkt/medizinische-forschung-mit-minderjaehrigen [Zugriffsdatum]

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